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Ein Mann und eine ältere Dame stehen in einer Küche.
Legende: Den Titel «Sieranevada» wählte der Regisseur, damit er in anderen Sprachen beibehalten wird. Das fehlende R ist Absicht. Wild Bunch Distribution

Filmfestival Cannes Der Cannes-Wettbewerb startet mit streitenden Verwandten

Der erste Wettbewerbsfilm in Cannes ist ein Familienfeierdrama aus Rumänien, in dem stundenlange Diskussionen und Streitereien der Hauptfigur zusetzen. «Sieranevada» ist dabei so anstrengend wie eine echte Familienfeier. Aber deutlich kürzer und raffinierter – und keine Sekunde langweilig.

40 Tage nach dem Tod seines Vaters trifft sich die Familie des 40-jährigen Arztes Lary in der Wohnung der Eltern zu einer Gedächtnisfeier. Weder die Feier noch das geplante Essen verlaufen wie erhofft.

Die Seele des Witzes

Ziemlich genau in der Mitte dieses 173 Minuten langen Familienfeierdramas schliesst ein Priester eine lange Anekdote mit der Bemerkung, Kürze sei die Seele des Witzes. Er hatte erzählt, wie er beinahe der Versuchung erlegen sei, an eine Wiederkehr Christi zu glauben, die unbemerkt von den Menschen bereits erfolgt und damit jede Rettung verloren sei.

Was dem frommen Mann Tränen der Rührung in die Augen treibt, fördert beim Publikum und beim zunehmend verunsicherten Lary eher die Lachtränen. Beim Publikum, weil Regisseur Cristi Puiu hier seinen Film mit perfekter Selbstironie zu kommentieren scheint. Bei Lary, weil die stundenlangen Diskussionen und Streitereien unter den Familienmitgliedern langsam an die Substanz gehen.

Eine Wohnung, viele Verwandte

Im Film geht es um Erinnerungen und Wahrnehmungen. Die Frau sieht nur die Untreue ihres Mannes. Er erkennt seinerseits die Perfidie ihrer Rache. Der Sohn erinnert sich daran, wie sein Vater eine abstruse Lügengeschichte seines zehnjährigen Bruders für bare Münze nahm. Wahrscheinlich einfach, weil er es so wollte.

Der nun erwachsene Bruder ist Kommunikationsoffizier bei der Armee. Er erklärt, er fürchte sich mittlerweile vor allem, weil seine ganze Generation vor den historischen Realitäten viel zu lange die Augen verschlossen habe.

Ein Mann und eine ältere Dame stehen in einer Küche.
Legende: Den Titel «Sieranevada» wählte der Regisseur, damit er in anderen Sprachen beibehalten wird. Das fehlende R ist Absicht. Wild Bunch Distribution

Der grösste Teil des Films spielt in der Wohnung der Mutter. Die hat einen zentralen Gang und davon abgehend Türen in alle Richtungen: ins Bad, in die Toilette, ins Wohnzimmer, in die Küche, ins Schlafzimmer. Überall sind die Verwandten am Reden.

Wo Ärger und Angst durchsickern

Die Kamera steht immer auf einem Stativ, stets auf Augenhöhe, meist fix am gleichen Punkt. Zum Beispiel im Gang, dann schwenkt sie bei Bedarf von Zimmer zu Zimmer, von Gesicht zu Gesicht. Puiu evoziert damit nicht zuletzt den unbeteiligten Blick eines Abwesenden, vielleicht des verstorbenen Vaters.

Wenn eine Figur eine Diskussion scheut, verlässt sie den entsprechenden Raum oder betritt ihn nicht. Türen werden immer wieder geschlossen, von innen, von aussen.

Es gibt eine lange Stellvertreterdiskussion um die Verschwörungstheorien zu 9/11, und dies vier Tage nach dem Pariser Attentat auf die Redaktion von «Charlie Hebdo». Eine Tante verteidigt eisern den Kommunismus der Jahre vor Ceaușescu, ihre gläubige Nichte verteidigt weinend die Kirche.

Cannes: Frisch ab Leinwand

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SRF-Filmkritiker Michael Sennhauser schaut sich in Cannes dutzende Filme an und schreibt über seine ersten unmittelbaren Eindrücke.

Mehr Filmbesprechungen unter sennhausersfilmblog.ch .

Es sind die üblichen politischen Diskussionen, die an Familienfeiern verdeckten Ärger und Ängste kanalisieren. Bloss dringen die tatsächlichen Sorgen, Meinungen und unterschiedlichen Blickwinkel immer deutlicher zutage.

Ein Titel für die ganze Welt

Man kann «Sieranevada» als klassisches «huis clos» verstehen, als metaphorisches oder reales Familiendrama. Aber auch als Gesellschaftsbild, als Momentaufnahme der rumänischen Gesellschaft. Allerdings müsste man dann ebenfalls zugeben, dass das Bild mit wenigen Änderungen auch auf den Rest Europas passen dürfte.

Dazu passt Cristi Puius Erklärung für den Titel des Films: Er habe sich immer darüber geärgert, dass Filme in anderen Sprachen andere Titel bekämen. Insbesondere natürlich Filme aus Rumänien, deren Titel schon in Cannes eine englische und eine französische Umdeutung erfahren.

Da habe er eben einen Titel gesucht, der auf der ganzen Welt gleich bleiben könnte. Zwar schreibe man fast überall Sierra Nevada in zwei Worten, nicht aber in Rumänien. Dann habe er noch ein R weggelassen, so dass man sich unwillkürlich frage, ob der Titel vielleicht einfach falsch geschrieben sei. Einen raffinierteren Markenschutz hat es im Kino wohl noch nicht gegeben.

Eine Palme wäre verdient

«Sieranevada» ist mit seinen 173 Minuten so anstrengend wie eine echte aus dem Ruder laufende Familienfeier. Aber deutlich kürzer, raffiniert, zuweilen komisch, manchmal bedrohlich und tatsächlich keine Sekunde langweilig.

Auch wenn Puiu zum ersten Mal im Wettbewerb von Cannes auftaucht, ist er doch einer der Pioniere des neuen rumänischen Films. 2005 gewann er mit «Der Tod des Herrn Lazarescu» den Preis «Un certain regard» in Cannes. Sein verdientes Renommee sorgt unter anderem dafür, dass jene, die sich von den fast drei Stunden dieses Films nicht abschrecken lassen, auch bereit sind, die konsequente Machart anzuerkennen.

Der erste Film im Wettbewerb von Cannes gewinnt selten die Palme. Erstens, weil er von allen nachfolgenden überlagert wird in der Erinnerung. Zweitens, weil wir ja immer alle hoffen, dass alle nachfolgenden Filme noch besser sein werden. Aber «Sieranevada» ist durchaus gut genug für eine verdiente Palme. Oder den Jurypreis.

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