Cannes 2014, Salle Lumière. Zwölf Minuten Standing Ovations. Xavier Dolans Film «Mommy» hat soeben Premiere gefeiert. Dolan ist überwältigt, er weint. Zwei Tage später erhält der kanadische Regisseur den Jury-Preis, den er zu gleichen Teilen mit Regielegende Jean-Luc Godard teilt. Jury-Präsidentin Jane Campion übergibt ihm den Preis. Er hält eine hollywoodreife Rede. Auf Campion, wie sie ihn inspiriert habe, Rollen für starke Frauen zu schreiben. Und er wendet sich an seine Generation: «Alles ist möglich für Menschen, die träumen, wagen, arbeiten und nie aufgeben». Seine Rede ist emotional und hart an der Grenze zum Kitsch. Und doch wirkt sie authentisch. Wie auch seine Filme.
Mehr als ein Tattoo
Fünf Filme hat der Kanadier Xavier Dolan realisiert. Mit 25 Jahren. Seinen ersten Film «J’ai tué ma mère» schreibt Dolan mit 16. Er produziert, führt Regie und spielt die Hauptrolle. 2009 – Dolan ist mittlerweile 20 – schliesst er den Film ab. Es ist die Geschichte eines homosexuellen Teenagers, der seine Mutter nicht ausstehen kann und für tot erklärt. Der Film wird nach Cannes eingeladen – und mehrfach ausgezeichnet.
Die Kinowelt feiert ihr neues Wunderkind. Eines, das vorhat, zu bleiben. «L’oeuvre est une sueur» («Ein Werk bedeutet Schweiss»), ein Zitat des französischen Schriftstellers Jean Cocteau, hat sich Dolan tätowieren lassen. Das versteht sich bei ihm «à la lettre»: Fast jedes Jahr macht er einen neuen Film – Drehbuch, Regie, Schnitt übernimmt er meist selbst, und oft spielt er auch selbst eine Rolle in seinen Filmen. Das Handwerk hat er sich selbst beigebracht.
Ästhetisch, authentisch, anders
Mit «Les amours imaginaires» (2010) schafft Dolan zwei Jahre nach seinem Debüt ein poppiges Liebesdrama. Ein Mann (gespielt von Dolan) und eine Frau verlieben sich beide unsterblich in den selben Schönling.
Der Film ist wunderbar ästhetisch – etwa, wenn Marshmallows zu schwelgender elektronischer Musik in Zeitlupe auf den goldenen Schopf des Angebeteten fliegen. Und doch ist der Film authentisch: Immer wieder wird er mit dokumentarisch wirkenden Aussagen von unglücklich Verliebten unterbrochen.
Es folgt «Laurence Anyways» (2012), die Geschichte eines transsexuellen Mannes, der um die Liebe seiner Partnerin und die Akzeptanz der Gesellschaft kämpft. Ein knallbuntes Drama, das die Lebensrealität eines «etwas anderen» Menschen schonungslos vor Augen führt, ohne den Zeigefinger zu heben. Grossartig die Eröffnungsszene, in der die Hauptfigur durch die Strassen geht und der Zuschauer in Zeitlupe die verblüfften Gesichter der Menschen sieht. 2013 wagt sich Dolan auf neues Terrain: den Thriller. In «Tom à la ferme» besucht Tom (Dolan) nach dem Tod seines Partners die Farm, auf der der Verstorbene aufwuchs. Die Mutter ahnt nichts von der Homosexualität ihres verstorbenen Sohnes – und das soll laut dessen Bruder auf Gedeih und Verderb so bleiben. Ein Film, der gekonnt an der Nerven zerrt.
Mit seinem letzten Film «Mommy» kehrt Dolan zu seinem filmischen «Urmotiv» zurück: der Mutter. Die Geschichte einer Mutter und ihres ADHS-kranken, gewalttätigen Sohnes ist eine Hommage an die Mutterfigur, wie sie wundervoller und grausamer nicht sein könnte. Das Motiv der Mutter, es beschäftigt Dolan. Auch das Anderssein und die unmögliche Liebe sind häufige Themen in seinen Filmen. Das kommt nicht von ungefähr.
«Ich mache Filme, um mich an Menschen zu rächen, die ich liebe»
1989 geboren, wächst Dolan in der Vorstadt von Montréal auf. Sein Vater, ein Ägypter, verlässt die Familie früh. Die Mutter, eine kanadische Primarlehrerin, zieht den kleinen Xavier, ein hyperaktives und aggressives Kind, alleine gross. Ein enges Mutter-Sohn-Verhältnis entsteht jedoch nie. Mit 16 verlässt der homosexuelle Teenager nach einem Streit mit einem Lehrer über richtiges Schreiben die Schule – und verfasst sein erstes Drehbuch für «J’ai tué ma mère». Den Film finanziert er zu Teilen selbst – mit Geld aus seiner Zeit als Kinderschauspieler.
«Ich mache Filme um mich an Menschen zu rächen, die ich liebe, wie zum Beispiel meine Mutter», sagt Dolan in einem Interview. Seine Mutter ist ihm bis heute fremd. Sein neuer Film ist eine Art Versöhnungsgeste – nicht für seine Mutter, aber für Mütter im Allgemeinen, so Dolan. Die Geschichte sei frei erfunden. Parallelen zu seinem eigenen Leben bestehen trotzdem.
«Ich orientiere mich am Unmöglichen»
Spätestens seit «Mommy» ist der junge Filmemacher an einem Punkt angekommen, an dem die Erwartungen hoch sind. «Xavier Dolan, toujours plus haut» titelte vor kurzem die renommierte französische Kinozeitschrift «Cahiers du Cinéma».
Und obwohl Dolan aus gesundheitlichen Gründen eine Pause ankündigte, arbeitet er weiter an seinem Werk – im grossen Stil. Dolan wagt den Schritt nach Hollywood: Ein Film mit Jessica Chastain soll entstehen. Die geplante Pause ist mittlerweile vergessen. Denn Dolan ist eben ein Getriebener, der nach dem Grossen strebt. Ein Talent mit leichtem Hang zum Megalomanischen. «A l’impossible je suis tenue» («Ich orientiere mich am Unmöglichen») ist Dolans zweites Tattoo.