Eine todgeweihte, krebskranke Freundin, zudem ein an Depressionen gescheiterter Halbbruder und zuvor ein alkoholsüchtiger Vater, der einem Herzinfarkt erlag: Die Autobiografie, welche die Regisseurin Nathalie Oestreicher in «Apfel und Vulkan» vor der Kamera ausbreitet, verspricht auf dem Papier schwermütige 80 Minuten.
Doch aus dieser Schwermut wird nichts. Zuerst einmal trägt der Film «Apfel und Vulkan» einen Zusatztitel: «Auf der Suche nach dem, was bleibt». Ein erster Hinweis darauf, dass dem Morbiden, Tristen und Makabren hier eine konsequent lebensbejahende Haltung gegenübergestellt werden wird.
Privates als Mittel zum Zweck
Zweitens: Das ist keine klassische Bio- und keine Autobiografie. Oestreicher stellt im Film weder sich selbst noch ihre kranke Freundin ins Zentrum.
Es geht stattdessen um die genannte Suche, es geht um Erinnerung – aber auch um Verdrängung – es geht um Souvenirs, um greifbare und ungreifbare Mittel, dem Vergänglichen eine zeitliche Verlängerung abzutrotzen.
Zuerst ist da die noch nicht 40-jährige Fabienne, die tödlich erkrankt auf ihr nahendes Ende blickt. Natürlich nimmt es einen mit, wie diese lebenslustige, energische Frau ihre verbleibende Zeit verwaltet und ohne Selbstmitleid daran werkelt, für ihre Nachwelt eine gebührende emotionale Hinterlassenschaft auf die Beine zu stellen.
Diese Frau schwelgt nicht in Erinnerungen, sondern sie produziert welche – so lange sie noch kann.
Du könntest meine Tochter sein
Der Film ist etwa eine Viertelstunde alt, als Fabienne im Gespräch vor der Kamera zur etwa gleichaltrigen Filmemacherin Nathalie einen Schlüsselsatz ausspricht: «Du bist meine erwachsen gewordene Tochter.»
Was sie damit impliziert: «Du, Nathalie, warst in deiner Kindheit schon mit dieser Art von Verlust konfrontiert, den meine Tochter einst nach meinem Tod verspüren wird.»
Dieser Vergleich hinkt hinsichtlich der Biografien, das räumt Fabienne gleich selbst ein – aber für Nathalie Oestreicher ist diese Aussage Grund genug, sich intensiv mit dem Tod ihres Vaters und ihres Halbbruders zu beschäftigen. Sie wird jetzt Lebende befragen. Sie wird sich an Orte begeben, an die sie sich bis jetzt nicht getraut hat.
Blicke nach innen
«Apfel und Vulkan» – die Bedeutung des Titels wird im Film selbst aufgelöst – reiht sich ein in eine jüngere Tradition des Schweizer Dokumentarfilmschaffens: Es richtet den Blick nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen. Seit Peter Liechtis «Vaters Garten» haben sich schon etliche Schweizer Filmschaffende dazu entschieden, ihre Familienalben für die Leinwand zu öffnen.
Hand aufs Herz: Solche Filme können ihr Publikum bisweilen etwas peinlich berühren. Man hat im Zuschauerraum ja nicht nach all diesen Intimitäten gefragt, die einem da in der Öffentlichkeit anvertraut werden. Man mutmasst bisweilen, ob sie in einer psychologischen Konsultation nicht besser aufgehoben wären.
Keine Rolle für den Tod
Aber Oestreichers Film löst keine solchen Gefühle aus. Der hier gegangene Weg ist ein Weg der Überwindung, der Konfrontation mit dem Verdrängten. Das Wort «Erinnerung» steht hier für eine konkrete Arbeit mit dem eigenen Gedächtnis – und dem eigenen Vermächtnis.
Das ist – so wie es hier gemacht wird – ausgesprochen mutig, schlüssig und universell. Man könnte sich gar ausmalen, dass der Tod mit seinem erdrückenden Mantel des Vergessens ganz gerne die Hauptrolle in diesem Film gespielt hätte. Aber Nathalie Oestreicher lässt ihn nicht.
Kinostart: 14.06.2018
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 14.6.2018, 17.20 Uhr