Eigentlich ist es doch ganz einfach. «Die» Wissenschaft gibt es ebenso wenig als fest umrissene Gruppe mit einer klar definierten Haltung wie «die» Gesellschaft oder «die» Presse. Und doch ist man oft versucht, in der Auseinandersetzung mit Klima-Leugnern, Corona-Zweiflerinnen, Impf-Skeptikern oder Fake-News-Verbreiterinnenn nach «der» Wissenschaft zu rufen.
Die Wissenschaft soll dem Argumentations-Wirrwarr der Skeptiker entgegentreten wie eine strahlende Superheldin. Die Wissenschaft: Gibt's denn nur eine?
Daran zweifelt Autor und Psychoanalytiker Peter Schneider in seinem neuen Buch «Follow the Science?». Im Bereich der Wissenschaften fand in den Jahrhunderten seit der Aufklärung eine enorme Ausdifferenzierung und Spezialisierung statt.
Wissenschaft nur ein Glaube unter vielen?
Welche Wissenschaft ist also gemeint, wenn es heisst, man solle den Ideen von Verschwörungstheoretikern mit Fakten aus der Wissenschaft begegnen? Allein diese Frage zu stellen, sei oft riskant, schreibt Peter Schneider.
Denn das führe leicht dazu, den Gehalt wissenschaftlicher Erkenntnisse infrage zu stellen mit dem Hinweis, dass es in der Wissenschaft zu jeder Meinung eine Gegenmeinung gebe und Wissenschaft eben auch nur ein Glaube unter anderen sei.
Wissenschaft nur divers denkbar
Peter Schneider plädiert für eine verantwortungsbewusste und differenzierte Betrachtung der Wissenschaften. Natürlich gibt es in den Wissenschaften unterschiedliche, auch widerstreitende Haltungen und Ansätze. Der Psychoanalytiker warnt eindringlich davor, diese Vielstimmigkeit der Wissenschaften eindämmen zu wollen, indem man bestimmten Denkrichtungen und Fakultäten mehr Bedeutung einräumt als anderen.
Deshalb mahnt er vor einer Machtübernahme der «Hard Science» über die «Soft Humanities», also der Biologie über die Gender-Theorie, der Neurologie über die Psychologie oder der Evolutionsbiologie über die Soziologie.
Doch Schneider macht klar: Vielstimmigkeit bedeutet nicht Beliebigkeit. Wissenschaften sind kein Kramwarenladen, deren Erkenntnisse als Meinungsäusserungen genutzt werden können. Das wird gerade von Zweiflern oft nicht beachtet.
Es gibt sogar Verschwörungstheorien, die mit Versatzstücken aus den Wissenschaften arbeiten. Denn bei aller Skepsis: Ein bisschen Wissenschaftlichkeit klingt immer wunderbar seriös.
Politik versus Wissenschaft
Woher kommt es eigentlich, dass so viele Menschen an wissenschaftlichen Erkenntnissen zweifeln? Peter Schneider sieht den Ursprung dieser Wissenschaftsfeindlichkeit in den USA der 1980er-Jahre. Seit Ronald Reagan habe so gut wie jeder Präsident staatliche Gelder für die Wissenschaften gekürzt. Die Politik sollte auch möglichst unabhängig von der Forschung sein, vor allem, wenn deren Erkenntnisse den Mächtigen nicht passen.
Im Umkehrschluss wünscht Peter Schneider sich ein klares Bekenntnis der Politik zu den Wissenschaften. Das erstaunt kaum. Mit seinem Buch führt er anschaulich vor Augen, wie wichtig klares Denken und deutliche Worte gerade in wirren Zeiten sein können.