1500 Menschen strömen am Abend des 24. Dezembers jeweils herbei. So viele wie sonst nie. Nicht alle finden einen Platz in den Kirchenbänken des Zürcher Grossmünsters. «Die Leute stehen oder sitzen in den Gängen», sagt der Pfarrer Christoph Sigrist. Das ist nicht jeden Sonntagmorgen so. Also, denkt man, müsste sich der Pfarrer eigentlich auf den Heiligabend freuen. Doch Christoph Sigrist sagt: «Ich habe extrem Mühe mit diesem Abend.»
Nicht wegen der vielen Menschen, sondern wegen der Erwartungen, die die Leute sowohl an sich selber als auch an ihn haben. «In Seelsorgegesprächen etwa höre ich immer wieder, dass man den Heiligabend eigentlich abschaffen sollte. Denn das Bild vom Weihnachtsidyll, von der fröhlichen Familie unter dem Christbaum, entspricht in vielen Fällen nicht der Realität. Auch unter dem Baum gibt’s Streit, und alle Sehnsüchte nach Geborgenheit, Familie und Zusammenhalt auf einen Abend zu fokussieren – das kann eigentlich nur schief gehen», so Sigrist.
«Ich bewege mich zwischen Prostitution und Prophetie»
Auch er selber wird in diesen Erwartungsstrudel hineingezogen. «Man erwartet von mir, dass ich so Gottesdienst feiere, wie man das aus Kindertagen kennt: Weihnachtslieder singen, eine langweilige Predigt, vielleicht eine witzige Pointe», stellt Sigrist ernüchtert fest. Auch wie sich die Kirchenbesucher danach fühlen sollen, wissen sie schon zuvor.
Er könne das auf der einen Seite zwar verstehen, auf der anderen Seite sei es nicht sein Auftrag, nur die Bedürfnisse zu befriedigen. «Und so bewege ich mich Jahr für Jahr gerade an Heiligabend auf dem schmalen Grat zwischen Prostitution und Prophetie», sagt Sigrist.
Zwinglis Worte als Auftrag
«Tut um Gottes Willen etwas Tapferes» – dieses Zwingli-Zitat steht in der Sakristei im Grossmünster, wo Zwingli im 16. Jahrhundert Pfarrer war. Und dieses Zitat ist es, das Christoph Sigrist heute Gottesdienst für Gottesdienst einen klaren Auftrag gibt. So erstaunt es nicht, dass Sigrist an Heiligabend keine «Heile-Welt-Predigt» vom Stapel lässt.
«Harte Worte braucht es auch an Weihnachten. Ein hartes Wort ist zum Beispiel, dass man nicht alles kaufen kann, sondern vieles sich der Machbarkeit durch Leistung, Intelligenz oder Geld entzieht.» Diese Mahnung zur Weihnachtszeit sind keine Erfindung von Sigrist, sondern bereits in der biblischen Weihnachtsgeschichte selber drin. Man denke nur an die Geschichte von Herodes, der wegen einer Weissagung Angst um seinen Thron gehabt und die Ermordung aller Knaben bis zum Alter von zwei Jahren in Bethlehem befohlen haben soll.
Schulter an Schulter in der Kirche
«Durch das harte Wort wird die Welt, die Realität zur Weihnachtszeit nicht einfach ausgeblendet, sondern miteinbezogen und anders beleuchtet», sagt der Pfarrer. Diese andere Beleuchtung mache Dinge sichtbar, die sonst verborgen blieben. So auch am 24. Dezember im Grossmünster: Schulter an Schulter stehen etwa Professoren und Obdachlosen, Alte und Jungen, Einsame und Grossfamilien. Und das ist für Christoph Sigrist Weihnachten.