Seit November protestieren Menschen auf Teherans Strassen gegen das iranische Regime. Zunächst ging es um erhöhte Benzinpreise. Dann aus Trauer um die Erdmordung von General Kassem Solemani. Das Regime fühlte sich bestärkt.
Doch seit dem versehentlichen Abschuss des ukrainischen Passgierflugzeugs sind die Menschen wieder auf der Strasse – neben den Arbeitern nun auch der Mittelstand und Kulturschaffende. Sehr zum Ärger des Regimes, wie Iran-Kenner Ali Sadrzadeh erklärt.
SRF: Was bewegt nun den Mittelstand, auch Akademiker und Künstlerinnen zu den Protesten?
Ali Sadrzadeh: In dem ukrainischen Passagierflugzeug befanden sich viele Akademiker. Viele waren Absolventen der Teheraner Universität oder anderen Universitäten. Das ist sicher ein Grund, warum diese Gruppen jetzt auf die Strasse gehen. Aber natürlich ist es auch die beharrliche Lüge des Regimes. Dass man drei Tage nicht zugeben wollte, dass man die ukrainische Maschine abgeschossen hatte. Das hat den Mittelstand in den Grossstädten aufgeregt und sie auf die Strasse getrieben.
Sie haben regelmässig Kontakt zu Iranerinnen und Iranern – wie nehmen Sie heute die Proteste wahr – trauen sich immer mehr Menschen auf die Strasse?
Es sind mutige Leute, die jetzt auf die Strasse gehen. Auf die Strasse zu gehen ist im Iran mit einer enormen Gefahr verbunden. Wenn sie auf der Strasse verhaftet und dann irgendwann mal vor ein Revolutionsgericht gestellt werden, ist das Mindeste, was sie erwarten können, eine mehrjährige Gefängnisstrafe.
Nichtsdestotrotz gehen diese jungen Leute auf die Strasse und man kann nur sagen: Hut ab. Ich glaube, das ist die grösste Krise, mit der die Islamische Republik seit ihrem Bestehen konfrontiert ist.
Auch Künstlerinnen und Künstler sind mit dabei – macht das den Menschen Mut?
Ich weiss nicht, ob die Mehrheit der Iraner von diesem Protest der Künstler viel erfahren. Das Interessante ist, dass die Islamische Republik bald den Jahrestag der Revolution feiert.
Wie jedes Jahr dauern diese Feierlichkeiten mindestens zwei Wochen. In dieser Zeit haben die Künstler, Literaten, Theatermacher, Regisseure für eine kurze Zeit eine beschränkte Freiheit, die sie sonst im ganzen Jahr nicht haben. Viele versuchen, diese kurze Freiheitspause auszunutzen.
In diesem Jahr haben aber fast alle Kulturschaffenden abgesagt, weil sie gesehen haben, das funktioniert nicht. Ein Theatermacher kann kein Theater veranstalten, während zugleich die Universitäten, der Mittelstand, die Akademiker mit so einer Katastrophe konfrontiert sind. Das hat das Regime sehr verärgert.
Was erhoffen sich denn nun die Künstler davon?
Es ist nur ein Protest. Ob das Regime darauf eingeht, das bezweifle ich. Das Regime glaubt, fest im Sattel zu sitzen. Für die Künstler ist das eine persönliche Entscheidung. Weil tatsächlich viele von ihnen eingesehen haben, dass man in der momentanen Situation nicht so tun kann, als gäbe es etwas zu feiern.
Längerfristig wird das natürlich Auswirkungen haben. Ich glaube, wir befinden uns im Iran an einem historischen Wendepunkt. Und wenn später über diesen Protest im Januar 2020 berichtet wird, dann wird man auch diese Künstlerproteste erwähnen.
Wenn sie von einem Wendepunkt sprechen, denken sie dann an eine Wende zum Bessern?
Es könnte auch schlimmer werden. Wir haben es im Iran mit einem Regime zu tun, das einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung hat – vielleicht bei 10 bis 20 Prozent der Iranerinnen und Iraner. Diese 20 Prozent sind zwar eine Minderheit. Aber sie sind bereit, sich für dieses Regime einzusetzen und gegen eigene Landsleute zu kämpfen. Ohne Blut wird es nicht ausgehen.
Das Gespräch führte Vanda Dürring.