Besser hätte es Leonardo da Vinci nicht treffen können: Er lebte als junger Mensch in Florenz in der Zeit Mitte und Ende des 15. Jahrhunderts.
Florenz war zu dieser Zeit eine reiche Stadt. Die Region war lange schon friedlich geblieben. Das Bankwesen funktionierte besser als anderswo, der Handel blühte.
Historiker Bernd Roeck sagt: «Es waren relativ liberale Zeiten. So konnte da Vinci ein einigermassen unbehelligtes Dasein führen.» Das, obwohl der Gelehrte der Quellenlage nach wohl schwul war und obwohl sein Umgang mit der Religion nicht dem entsprach, was die damals herrschende Lehre war.
Da Vinci, der Büchernarr
Ein weiterer wichtiger Punkt: 1450, zwei Jahre vor der Geburt von Leonardo da Vinci, erfand Gutenberg in Mainz den Buchdruck mit beweglichen Lettern. Diese Erfindung breitete sich schnell durch Europa aus.
Der junge Italiener wuchs in eine Welt hinein, in der Bücher und antike wie neue Schriften deutlich zugänglicher waren als vorher.
Leonardo da Vinci nutzte die Vorteile seiner Zeit offenbar, so gut er konnte. Seine Bibliothek umfasste am Ende 116 Bücher, was – für die Zeit – sehr viel war. Bernd Roeck sagt: «So viele Bücher hat mancher Patrizier nicht besessen.»
Ein charmanter Entertainer
Den Erfolg schon zu Lebzeiten brachte Leonardo da Vinci nicht zuletzt seine Fähigkeit, sich selbst anzupreisen. Er achtete auf sein Äusseres, parfümierte sich gern, war witzig. Mit alldem konnte er die Menschen – inklusive potentieller Auftraggeber – offensichtlich für sich einnehmen.
Für die Mächtigen der Stadt Florenz, die Medici, und später für den Herzog von Mailand war Leonardo da Vincis Können attraktiv. Nicht nur als Maler: «Er hat Theaterstücke und Feste inszeniert wie kein Zweiter. Das war für einen Fürsten wichtig, denn es versprach Renommée», sagt Historiker Bernd Roeck.
Das alles erklärt aber noch immer nicht, warum Leonardo da Vinci bis heute so bekannt ist.
Jenseits von Stereotypen
Ein Erklärungsansatz könnte sein: Er profitierte nicht nur von dem, was seine Zeit ihm bot. Da Vinci formte daraus etwas Neues.
Das fiel seinen Zeitgenossen auf, sagt Roeck: «Was er bot, war so überzeugend, dass man gesagt hat: Das von bisher war Schrott im Vergleich zu dem, was der da bietet.»
Zum Beispiel eine Malerei, die nicht nur Stereotypen wiedergibt. Leonardo interessierte sich zwar für Idealbilder wie den vitruvschen Mann, der sich in einem Kreis und einem Quadrat spreizt. Aber er studierte und zeichnete auch die Vielfalt unter den Menschen und setze sie für seine Malerei ein.
Seiner Zeit voraus
Zudem sezierte Leonardo Leichen, um anatomisch genau zeichnen zu können. 1480 studierte er etwa die Nackenmuskulatur eines toten Körpers, weil er die Details für sein Gemälde des heiligen Hieronymus brauchte.
Und er entdeckte in der Leiche eines Mannes, der mit etwa 100 Jahren verstarb, die Symptome der Arteriosklerose. Da Vinci beschrieb lange, bevor die Medizin das Phänomen erfasst, dass es diese Alterskrankheit überhaupt gibt.
Irgendwann, sagt der US-amerikanische Leonardo-Biograf Walter Isaacson, übernahm die Neugierde die Führung: «Er notiert sich eines Tages, dass er wissen will, wie die Zunge des Spechts funktioniert. Wer braucht sowas? Er wollte es einfach wissen.»
Grashalme und Gesteine
Da Vinci schien sich schlicht für alles zu interessieren. Er studierte Faltenwürfe, Grashalme und Gesteinsstrukturen mit derselben Intensität, mit der er sich Wasserstrudeln widmete oder der Erfindung von Flugmaschinen und Streubomben.
Leonardo plante grosse Abhandlungen über seine Forschungen und Erfindungen, publiziert hat er aber nie etwas. So ist die Vielfalt seiner Interessen nur in seinen Notizen und rund 6000 Zeichnungen dokumentiert.
Das britische Königshaus besitzt eine herausragende Sammlung dieser Zeichnungen und stellt sie im 500. Todesjahr des Universalgenies stolz aus.
Anatomie als Paradedisziplin
Darunter sind so berühmte Blätter wie die Skizzen zum menschlichen Schädel oder zur Lage des Fötus im Mutterbauch.
Der neugierige da Vinci wollte wissen, wie ein Kind in die Gebärmutter passt und hielt, nachdem er eine tote Schwangere sezieren konnte, seine Position genau fest.
Seine anatomischen Skizzen setzten Massstäbe. Überhaupt scheint Anatomie eine Paradedisziplin für den naturforschenden Leonardo gewesen zu sein: Es ging ihm darum, die Struktur unter der Oberfläche der Erscheinungen zu erforschen.
Bewegung festhalten
So widmete er sich mit derselben Neugier nicht nur dem menschlichen Skelett oder dem Muskelaufbau, sondern auch der Physik.
Insbesondere die Kräfte, die auf Wasser wirken, haben Leonardo da Vinci Zeit seines Lebens beschäftigt. In den entsprechenden Skizzen friert er wie auf einer Fotografie den Moment ein und hält Dinge fest, die er so gar nicht beobachten konnte.
Warum sieht Wasser so aus, wie es aussieht? Welche Muskeln erzeugen ein Lächeln? Das hat Leonardo als Naturforscher und Künstler interessiert.
Er habe zwischen Kunst und Wissenschaft nicht unterschieden, sagt der da Vinci-Experte Martin Clayton, der die grafische Abteilung der britischen Royal Collection leitet.
Kunst ist Wissenschaft
Nur wer die Erscheinungen versteht, weil er sie erforscht hat, kann sie richtig darstellen. Diese Überzeugung und seine grenzenlose Neugier haben da Vinci angetrieben.
Oft genug hat ihn sein Wissensdurst aber auch abgelenkt. Für das nicht erhaltene Bild der Leda fertigte da Vinci viele Pflanzenstudien an. Bald aber interessierte ihn Halme und Blätter mehr als das eigentliche Bild.
Die rund zwanzig erhaltenen Bilder von da Vinci zeigen oft zeittypisch stilisierte Frauen: Madonnen, Heilige Annen und auch die Königstochter Leda aus der griechischen Mythologie schlagen bei da Vinci züchtig die Augen nieder.
Doch bei so viel Demut suchte sich Leonardos Kreativität ein Ventil: Ledas Frisur. Das kunstvolle Geflecht scheint wie die Pflanzen zu leben.
«Alles, was er zeichnete, wirkt lebendig», sagt der da Vinci-Experte Martin Clayton. Leonardo war besessen von Bewegung und Leben. Das ist gut zu sehen auf einem berühmten Blatt mit dringendem Kitschverdacht aus der Sammlung des britischen Königshauses.
Leonardo hielt die Bewegungen von Katzen und Löwen fest und bewältigte ganz unkitschig eine eigentlich unmögliche Aufgabe: vier Dimensionen – bewegte Körper in Raum und Zeit – in einem zweidimensionalen Medium festhalten.