Die Titelfigur Sabrina sehen wir nur auf den ersten Seiten dieser Graphic Novel: Sie kümmert sich um das Haus ihrer abwesenden Eltern und unterhält sich lange mit ihrer Schwester. Am nächsten Morgen verlässt sie das Haus – und verschwindet. Sie wird, erfahren wir später, das Opfer eines brutalen Mords, dessen Video viral geht.
Nick Drnasos Graphic Novel «Sabrina» ist jedoch kein Krimi. Wie und warum Sabrina umgekommen ist, und ob der Mann im Video tatsächlich ihr Mörder ist, erfahren wir nicht. Nicht das ist relevant. Relevant ist der Kontext, in dem solche Untaten und vor allem solche Videos möglich sind. Relevant sind die Diskussionen und Kommentare, die solche Videos auslösen.
Erschütterndes Kunstwerk
Der 29-jährige Nick Drnaso macht die Ermordete zur Hauptfigur seines Comics und nimmt diesen Mord zum Anlass für eine bestechende Analyse seiner Wirkung auf Angehörige, Freunde und die Internet-Gemeinde. Damit trifft der 29-jährige Nick Drnaso der Nerv der Zeit und sorgte für viel Aufsehen: «Sabrina» wurde als erste Graphic Novel überhaupt für den renommierten Literaturpreis Man Booker Prize nominiert.
Die Autorin Zadie Smith bezeichnete «Sabrina» als «das beste Buch über unsere Gegenwart, das ich gelesen habe», und die New York Times umschrieb es als «ein zutiefst amerikanischer Alptraum» und «ein erschütterndes Kunstwerk».
Emotionale Leere
In kühlen, matt eingefärbten, geradezu aseptisch sauberen Bildern entwirft Drnasos Szenen von geradezu unerträglicher emotionaler Leere und Enge. Da ist Teddy, ihr Freund mit den halblangen blonden Haaren. Verstört von ihrem Verschwinden taucht er bei seinem alten Freund Calvin unter, den er seit der Highschool aus den Augen verloren hat.
Calvin lebt in der Provinz, hadert mit seiner Trennung von Frau und Tochter und arbeitet als Techniker im Kampfanzug für die amerikanische Armee. Calvin kümmert sich rührig um seinen alten Buddy, doch ein echter Kontakt zwischen den beiden entsteht nicht.
Das dumpfe Raunen im Netz
Derweil zieht das Mord-Video seine Kreise und löst die üblichen Kommentare und Kontroversen in Netz-Foren und im konservativen Talkradio aus. Aufgrund von angeblichen Ungereimtheiten im Video werden haarsträubende Theorien entwickelt: Das Video sei ein Fake, und Sabrina lebe noch. Oder: Die Regierung habe Sabrina ermordet, um die Bevölkerung zu ängstigen.
Es entsteht das mittlerweile wohlbekannte dumpfe Raunen aus Verschwörungstheorien, Fake-News, politischer Paranoia, Nationalismus, Kulturkampf und schlichtem Irrsinn … – und plötzlich gerät Calvin ins Visier der Hetzer: Sie sind überzeugt, dass er die ganze Wahrheit über Sabrina kenne …
Vertrauen aufgelöst
Nick Drasno schildert scheinbar beiläufig, aber mit grosser Akkuratesse und auf vielschichtige Weise, wie diese kaum fassbare und kaum angreifbare Meinungsmache unser Vertrauen in selbstverständliche Gewissheiten und die eigene Wahrnehmung zersetzen kann, und wie leicht sich jegliches Gefühl für Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Vernunft und Konsens auflösen.
Donald Trump wird zwar nie namentlich erwähnt, aber es ist dieses Post-9/11-Amerika, das Nick Drnaso auf raffinierte und eindringliche Weise seziert, das Amerika, das einen solchen Präsidenten überhaupt möglich gemacht hat.