Als Gertrude Vanderbilt Whitney dem Direktor des Metropolitan Museum ihre Kunstsammlung als Geschenk anbot, winkte der Herr dankend ab: «Was sollen wir mit dem Zeug, verehrte Dame? Wir haben davon schon einen ganzen Keller voll.» Die Multimilliardärin, Mäzenin und Bildhauerin stürmte daraufhin wutentbrannt aus seinem Büro und beschloss kurzerhand, ihr eigenes Museum zu gründen. Das war 1930 in New York und die Geburt des Whitney Museum of American Art. Gertrude Vanderbilt Whitney wollte der zeitgenössischen amerikanischen Kunst eine Plattform bieten.
Endlich im Rampenlicht?
Dieser Mission ist das Museum treu geblieben. Die Sammlung umfasst inzwischen 22'000 Werke von Edward Hopper und Mark Rothko bis zu Sherrie Levine und Cory Archangel. Und obwohl sich unter ihnen manches Meisterwerk befindet, fristete das Whitney an der Upper East Side bisher ein Dasein im Schatten der anderen drei grossen New Yorker Museen: dem enzyklopädischen Metropolitan Museum, dem Museum of Modern Art mit seinen Schätzen der Europäischen Moderne und dem Guggenheim Museum in seinem denkmalgeschützten Frank-Lloyd-Wright-Bau, der als architektonische Sehenswürdigkeit ein Muss für jede Reisegruppe ist.
Mit einem eigenen neuen Prachtsbau an bester Lage hofft das Whitney Museum, nun endlich selber ins Rampenlicht zu treten. Der italienische Stararchitekt Renzo Piano hat das Gebäude entworfen. 422 Millionen Dollar hat es gekostet, und die Fertigstellung dauerte sieben Jahre.
Ein kubistischer Blumentopf
Die Lage des neuen Whitney könnte attraktiver nicht sein: am Ufer des Hudson River, in unmittelbarer Nähe der beliebten Flaniermeile High Line und des Galerienviertels Chelsea.
Das Gebäude gleicht einem kubistischen Blumentopf mit Wucherungen auf alle Seiten hin. Neun asymmetrische Stockwerke aus Stahl und Glas drängen sich über einer aquariumartigen Lobby. Es gibt vier Terrassen und einen überdeckten Vorplatz, der zum Verweilen einlädt. Das neue Whitney möchte mehr bieten als nur Kunst.
Übersicht über amerikanische Kunst
Und das tut es. Das Restaurant ist bereits auf Wochen hin ausgebucht. Ein Kino- und Theatersaal lockt mit Kassenschlagern. Im Sommer sind Blockpartys geplant, im Winter sollen DJs drinnen regelmässig für Stimmung sorgen. Und Kunst ist schon auch vorhanden.
Die Eröffnungsausstellung trägt den Titel «America Is Hard to See» – «Amerika ist schwer zu sehen». 600 Werke aus der Sammlung von 400 Künstlern sind darin zu einer chronologischen Übersicht über die amerikanische Kunst von 1900 bis heute aneinandergereiht. Allerdings stiehlt der Blick aus einem der gigantischen Fenster, der über den Fluss bis zur Freiheitsstatue reicht, der Kunst eindeutig die Schau.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 1.5.2015, 16.50 Uhr.