Eigentlich hatte man Paul McCartney als Teil der Nostalgie-Industrie des Rock’n’Roll abgebucht. Als einen Musiker, der seine wichtigste künstlerische und kommerzielle Zeit seit Langem hinter sich hatte. Der zwar noch immer Alben herausgab, aber in den folgenden Grosstourneen doch wieder zu den Hits der Beatles und seiner frühen Solokarriere zurückkehrt.
Zurück an der Chart-Spitze
Und dann dies: Paul McCartney, Jahrgang 1942, Karrierebeginn 1962, springt mit seinem neuen Album «Egypt Station» auf den ersten Platz der US-Hitparade. Was ist geschehen?
Seit Jahrzehnten, eigentlich seit der Auflösung der Beatles, hatte man für McCartneys Solokarriere eine einfache Erklärung, die beinahe gebetsmühlenartig bei jedem Album hervorgezogen wurde: Dem versierten Melodiker falle das Songschreiben viel zu leicht, als dass er sich dabei noch richtig anstrengen würde. Zu sehr fehle ihm der bissige John Lennon als Gegenpart.
So sehr diese Einschätzung periodisch stimmen mochte, so sehr versperrte sie doch den Blick auf eine faire Kritik seiner Alben.
Kaum Erfolge in den 80ern
Besonders in den 80er-Jahren wollte dem Sänger und Multi-Instrumentalisten wenig gelingen. Er schielte nach dem Hitparadenerfolg, duettierte mit Michael Jackson und Stevie Wonder, gab vernachlässigbare Filme mit dazugehörigen Alben heraus («Give my Regards to Broad Street»).
Selbst der Rock’n’Roll seiner Jugend hatte beim russischen Album «Choba B CCCP» keinen Biss. Die Zeit der Beatles und ihrer künstlerischen Höhenflüge schien ganz weit weg. Bis ihm 1997 mit «Flaming Pie» ein Kurswechsel gelang. Erstmals seit Langem schien sich McCartney hier treu zu sein, im überwiegend Guten wie im weniger Guten.
«Flaming Pie» als Wendepunkt
Von da an ging es aufwärts, mit ein paar echten Highlights: «Run Devil Run» (1999) enthielt knackige Versionen der Rock’n’Roll-Klassiker seiner Jugend. Für «Memory Almost Full» (2007) schrieb er quirlige Songs über das Altern. «Electric Arguments» (2008) war ein experimentelles Werk unter dem Pseudonym «the Fireman».
Dazwischen ging er mit eigener Band auf ausgedehnte Welttourneen, wo er unermüdlich Auszüge aus dem Werk der Beatles und seiner Solokarriere aufführte.
«Egypt Station»: emotional und nostalgisch
Künstlerisch ist «Egypt Station» keine Überraschung, sondern die sorgfältig ausgearbeitete Fortsetzung des gesamten Lebens McCartneys. Emotional stark und direkt, mit starken Melodien und Riffs, inhaltlich manchmal etwas leicht und oberflächlich, auch nostalgisch. Aber letztlich trifft das alles auch auf seine Songs bei den Beatles zu.
Nur eines mag sich geändert haben: Paul McCartney und sein Team scheinen dieses Mal moderne Marketing-Techniken für sich entdeckt zu haben.
Singen mit Corden, talken mit Fallon
Im Vorfeld setzte er sich zum britischen Komiker James Corden ins Auto und fuhr mit ihm zu den Handlungsorten seiner Jugend in Liverpool – ein herzergreifendes Dokument inklusive gemeinsames Singen.
Weiter stellte er sich mit dem amerikanischen Talk-Show-Master Jimmy Fallon für einen komischen Sketch zur Verfügung und gab sich in Interviews ungewohnt persönlich.
Aufs Alter hin scheint McCartney greifbar zu werden, wo er oft nur noch routiniert wirkte – wie die Musik von «Egypt Station», mit der er es nun auf den obersten Rang der Hitparade geschafft hat. Eine Leistung für einen 76-Jährigen – auch wenn er Paul McCartney heisst.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Vorabend, 18.9.2018 16:05 Uhr