In der Probebühne des Zürcher Opernhaus am Escher-Wyss-Platz herrscht konzentrierte Stimmung. Alle – das Ensemble von «Così fan tutte», Sängerinnen, Schauspieler, Dramaturgin, Spielleiter – sitzen in einem Halbkreis und starren gespannt auf einen kleinen Laptop.
Regie per Videobotschaft
Sie warten auf ihren Regisseur: Kirill Serebrennikov. Doch der wird nur im Video erscheinen, heute und an allen anderen Probentagen auch. Denn Kirill Serebrennikov sitzt in Moskau in seiner kleinen Wohnung unter Hausarrest, der soeben bis Ende April 2019 verlängert wurde.
«Hi everybody. Heute wird es um die Bettszenen gehen – das sind die Szenen, in welchen die erotische Stimmung der ganzen Geschichte kulminiert. Ich schlage vor, das maximal diskret zu spielen», sagt Regisseur Serebrennikov.
Diese Videobotschaften seien für sie alle sehr wichtig, erklärt die Sängerin Anna Goryachova. «Die Unterstützung, die Energie Serebrennikovs, zu schauen, wie er reagiert und alles beschreibt. All das hilft, um die Inszenierung auf die Bühne zu bringen.»
Serebrennikov wird vorgeworfen, öffentliche Subventionen veruntreut zu haben. Seit über einem Jahr steht er bereits unter Hausarrest, darf seine 30 Quadratmeter grosse Moskauer Wohnung nur für zwei Stunden pro Tag unter Aufsicht verlassen. Sämtliche Kommunikation ist stark beschränkt und läuft nur über seinen Anwalt.
Dringlichkeit ist spürbar
Unter diesen Umständen zu inszenieren ist quasi unvorstellbar und gleichzeitig eine Überlebensstrategie. «Es ist schwer, unerträglich fast und doch ist die Arbeit das einzige, was dich retten kann», sagt Evgeny Kulagin. Der Assistent von Kirill Serebrennikov leitet die Proben und setzt alle Regieanweisungen detailgetreu um. Serebrennikov hat sie in der Partitur genau notiert.
Stolz und Dringlichkeit
Dass die Premiere am 4. November stattfinden wird, ist auch der Verdienst eines grossen Teams von Vertrauten Serebrennikovs, die seine Arbeiten kennen, seine Phantasie. Cornelius Meister, Dirigent von «Così fan tutte» blickt bewundernd auf diese Maschinerie.
Er sei oft gefragt worden, ob sich die Situation von Kirill Serbrennikov in der Inszenierung niederschlagen werde, erzählt Meister. Am Anfang habe er das immer verneint. Mittlerweile aber erkenne er im Team eine Haltung à la «Wir lassen uns nicht beugen». Diesen Stolz, diese Dringlichkeit auch, spüre man in fast jeder Sekunde dieser Inszenierung.
Ein Zeichen in Richtung Russland
Auch das Opernhaus Zürich versteht die Aufführung als ein Zeichen. Die Hoffnung, dass in Russland jemand dieses Zeichen wahrnehme, sei zwar gering, umso grösser jedoch sei das Signal der Solidarität mit Serebrennikov.
Man wolle Serebrennikov das Gefühl geben, dass man ihn nicht fallen lasse, dass man an seine Unschuld glaube, so lang nicht das Gegenteil bewiesen sei, so die Dramaturgin Beate Breidenbach.
Am Mittwoch, den 7. November, drei Tage nach der Zürcher Premiere, wird in Moskau der erste Prozesstag stattfinden. Beobachter gehen davon aus, dass es ein langer Prozess wird, an dessen Ende die Verurteilung stehen könne.
«Die Bühne ist unsere Barrikade»
Obwohl die Anschuldigungen absurd seien. Denn hinter der Anklage stehe etwas ganz anderes, erzählt die renommierte russische Theaterkritikerin Marina Davydova. Der Fall Serbrennikov stehe für den Konflikt zwischen den widerstreitenden modernen und konservativen Kräfte Russlands.
Wer offen seine Homosexualität lebe, wer Gewalt und Nationalismus in der russischen Gesellschaft thematisiere, gerate in das Fadenkreuz der konservativen Kulturbürokratie.
Von diesem schwelenden Konflikt ist auf der Probebühne in Zürich nur selten etwas zu spüren. Evgeny Kulagin beschreibt es so: «Man darf keine Angst haben, denn die Angst frisst die Seele auf und macht uns erbärmlich. Man muss einfach die eigene Wahrheit kennen und diese Wahrheit immer beschützen, egal in welchen Situationen man sich gerade befindet.»
Schauspieler und das Theater bewahrten diese Wahrheit, in dem sie jeden Tag auf die Bühne gingen: «Wir arbeiten weiter. Das ist unsere Barrikade und unsere Wahrheit.»