Nachdem ich eine halbe Stunde in Menüs und auf Google verbringe, um herauszufinden, wie ich das Zielfernrohr bediene, dämmert es mir: «ArmA 3» ist nichts für mich. Es ist für Leute, die eine präzise Nachbildung von Soldaten, Taktik und Kriegsgerät wollen, um einen Konflikt in naher Zukunft zwischen NATO und Iran auszutragen. Und dafür eine hochkomplexe Steuerung in Kauf nehmen, auf gängige Muster der Unterhaltung verzichten. Wer «ArmA 3» spielt, hat wohl schon «ArmA 2» gespielt und kennt sich aus. Neulinge verstehen erst mal gar nichts.
In diese Rekrutenschule will ich aber nicht, und deshalb beschliesse ich, den riesigen Schauplatz von «ArmA 3» anders zu nutzen. Es sind zwei Inseln in der Ägäis; die kleine heisst Stratis, die grosse Altis; sie sind Nachbildungen der realen Inseln Stratis und Limnos.
Da war ich noch nie. Also einmal quer über Altis wandern! Ich plane eine Route, rund fünfzig Kilometer diagonal über die Insel. Hier ist die Routenbeschreibung, gewandert in Echtzeit.
0600 Uhr, Kilometer 0, Schulden: 376,9 Milliarden Euro
Meine Spielfigur Corporal Richard Miller ist ein bisschen verwirrt. Da steht er an der Südost-Küste von Altis, vor einer kleinen Kapelle. Nebel verzieht sich gerade, die Oktoberluft ist kühl, die Sonne ist noch nicht im Meer aufgetaucht. Private Scott Jones begleitet ihn, ein fähiger Mann, aber wie kann der helfen bei diesem seltsamen Auftrag? Miller soll die Staatsschulden Griechenlands tilgen. Die Werkzeuge: Scharfschützengewehr, Munition, Erste-Hilfe-Paket, Feldstecher. Miller schultert den Rucksack und stapft los. Selakano liegt zwei Kilometer nordwestlich. Vielleicht gibt es da Antworten.
0603 Uhr, Kilometer 1, Schulden: + € 270'000 (Zins)
Auf einer Hügelkuppe stehen zwei Wachen, Iraner. Was machen die denn hier?
Die Luft ist frisch, ich höre Grillen, ein Vogel fliegt auf.
Diesen Frieden will ich nicht trüben. Ich bin ja zum Wandern hier.
Ich steuere Miller im grossen Bogen um die Wachen herum.
0612 Uhr, Kilometer 2, Schulden: + € 810'000
Miller keucht, die Ränder seines Blickfeldes flimmern. Kein Wunder, er ist im Laufschritt unterwegs. Das wird er nicht stundenlang durchhalten. Diese Übung könnte sich in die Länge ziehen.
0620 Uhr, Kilometer 2, Schulden: + € 720'000
Ein Dorf in Sichtweite. Vielleicht sind da noch mehr Iraner.
Besser weg von der Strasse.
Miller keucht sich die Lunge aus dem Leib.
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0624 Uhr, Kilometer 3, Schulden: + € 360'000
Das Duo ist am Dorfrand von Selakano angekommen. Keine Iraner in Sicht. Der Himmel verfärbt sich rosa. Links auf dem Hügel ein Glockenturm.
Noch hat das letzte Stündchen Griechenlands nicht geschlagen, aber die Schulden steigen stetig.
0634 Uhr, Kilometer 3, Schulden: + € 900'000
Da waren doch zwei, auf dem Dorfplatz. Kaum habe ich sie entdeckt, beginnt Jones sofort zu schiessen. Statt locker durch eine Nebenstrasse zu entwischen, muss Jones wieder seine Hitzkopf-Nummer durchziehen.
Miller trifft einen; der Zweite verschwindet zwischen den Häusern. Holt der Verstärkung?
Besser weg hier. Ein Kilometer weiter liegt Feres. Da soll es eine Kirche geben.
0644 Uhr, Kilometer 4, Schulden: + € 900'000
Eine Tankstelle. Könnte nützlich sein, wenn die Lust auf Wandern vergehen sollte.
Miller hat Jones befohlen, das Feuer einzustellen und erst auf einen Befehl zu warten.
Kein bisschen zu spät. Hundert Meter weiter stossen die beiden auf eine Patrouille. Jones kann sich zurückhalten. Durch Gärten und hinter Lehmmäuerchen schleichen sie zur Kirche.
0651 Uhr, Kilometer 5, Schulden: + € 630'000
Miller kniet in der Kirche. Er betet für Griechenland. Es hilft nichts, die Schulden steigen weiter. Jones schleicht draussen herum. Plötzlich Rufe. Haben die Iraner sie doch entdeckt? Miller setzt an. Und ab. Zivilisten rennen vorbei.
Ich höre erneut Stimmen. Das klang sehr iranisch! Schritte, nun ganz nah.
Sie entfernen sich. Miller und Jones verlassen die Kirche, verlassen Feres. Drehen ab gen Norden.
0701 Uhr, Kilometer 6, Schulden: + € 900'000
Ein Hase reckt sich in den ersten warmen Strahlen der Oktobersonne.
Miller beobachtet ihn durch sein Zielfernrohr.
Und lässt ihn davon hoppeln.
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0707 Uhr, Kilometer 7, Schulden: + € 540'000
Jones muss mal.
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0710 Uhr, Kilometer 8, Schulden: + € 270'000
Jemand schiesst. Ich sehe nicht, woher. Die beiden lassen sich fallen und robben in Deckung.
Miller entdeckt einen Pickup-Truck. Sie lassen die Wanderung Wanderung sein und flüchten mit dem Auto aus dem Dorf.
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0718 Uhr, Kilometer 9, Schulden: + € 720'000
Das Auto nähert sich der Kuppe eines Hügels. Dass die Handyantenne dort bewacht sein könnte, hätte ich mir denken können. Miller fährt an den verdutzten Wachen vorbei.
Die eröffnen das Feuer.
Miller rast über die Kuppe, springt aus dem Wagen und wirft sich in den Strassengraben. In einem weiten Bogen flankiert er die Wachen.
Aus 300 Metern trifft er sie allerdings nicht.
Doch sie suchen das Weite. Auch gut.
0726 Uhr, Kilometer 10, Schulden: + € 720'000
Die Iraner sind längst über alle Berge, doch Jones springt noch immer nervös von Deckung zu Deckung. Miller schickt ihn voraus, um seine Ruhe zu haben. Er erklimmt den Didymos.
Im Norden liegt eine grössere Siedlung, Pyrgos. Da müsste sich doch etwas gegen Schulden machen lassen.
Doch zuerst eine Pause: Früchtetee und ein Ei mit Aromat.
Jones beruhigt sich.
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0733 Uhr, Kilometer 11, Schulden: + € 630'000
Schmetterlinge. Eine Schlange. Noch drei Kilometer bis Pyrgos. Ich stehe auf, hole mir ein Bier und höre, zurück vor dem Computer, einen Podcast. Wie ich das auch sonst beim Spazieren mache.
0746 Uhr, Kilometer 14, Schulden: + € 1'170'000
Zwei Iraner bewachen einen Steinbruch. Warum? Steine gibt es hier doch genug. Miller umgeht sie im Westen.
Ich drücke nun schon sehr lange «W» auf der Tastatur, um vorwärts zu rennen. Mein Mittelfinger beginnt zu schmerzen.
Griechenland hat nichts von diesem Opfer.
0755 Uhr, Kilometer 15, Schulden: + € 810'000
Pyrgos ist der erste Ort mit Häusern mit mehr als zwei Stockwerken.
Der Hafen ist unbewacht. Die Iraner haben seltsame Prioritäten.
Miller und Jones schleichen in die Stadt.
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0805 Uhr, Kilometer 16, Schulden: + € 900'000
Jones muss mal.
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0808 Uhr, Kilometer 16, Schulden: + € 270'000
Miller findet ein Auto. Man könnte nun der Küste folgen, nach Norden, an Telos vorbei und dann nach Westen.
Doch im Nordosten soll es eine kleine Wüste geben! Altis sei trocken und windig genug.
Das will ich sehen. Miller und Jones machen deshalb einen Sightseeing-Abstecher, bequem mit dem Auto.
0816 Uhr, Kilometer 19, Schulden: + € 720'000
Vielleicht sind 110 km/h etwas zu schnell für Inseldörfer.
In Nifi taucht aus dem Nichts ein Zivilist auf. Miller bremst und schleudert wild an Zivilist und Olivenbäumen vorbei. Und hat Glück: Unversehrt kommt das Auto zum Stehen.
Nur hundert Meter weiter steht eine Patrouille. Miller kann gerade noch in eine Gasse abbiegen, bevor sie das Auto sehen.
0827 Uhr, Kilometer 24, Schulden: + € 990'000
Kurz vor der Wüste fährt Miller schon an der dritten Gruppe Wächter vorbei. Sie treffen ihn durch die Windschutzscheibe. Mit Ach und Krach bringt er das Auto zum Stehen. Jones und Miller verlassen es rechtzeitig, bevor eine Granate explodiert. Erste Hilfe ist nötig.
Nach dem Gefecht kehrt Miller zum Auto zurück. Die Vorderreifen sind zerschossen. Es wird wieder gewandert.
0845 Uhr, Kilometer 25, Schulden: + € 1'620'000
Die «Wüste» entpuppt sich als Salzsee.
Miller setzt sich hin und meditiert.
Es hilft Griechenland nichts. Die Schuldzinsen türmen sich weiter auf.
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0857 Uhr, Kilometer 27, Schulden: + € 1'080'000
Noch drei Klicks bis Rodopoli. Da soll es eine schöne Kirche geben und vielleicht finden sie wieder etwas Fahrbares. Während Miller und Jones querfeldein wandern, schaue ich mit der freien Hand bei Facebook nach, was die Freunde so treiben.
0905 Uhr, Kilometer 28, Schulden: + € 720'000
Olivenbäume, Olea europaea, sind immergrün. Im Oktober ist es auf Limnos, äxgüsi, Altis, im Tagesmittel angenehme 17 Grad warm.
Miller muss sich hinsetzen.
Ich hole noch ein Bier.
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0915 Uhr, Kilometer 29, Schulden: + € 900'000
Mit links steuere ich Miller, mit rechts lese ich Wikipedia. Der Legende nach sollen die Frauen von Limnos einst alle Männer umgebracht haben, um selber an die Macht zu gelangen. Und dann zu bemerken, dass sie sich so nicht mehr vermehren können. Diese archetypische Rechtfertigung männlicher Vormacht nennt man den «Lemnischen Frevel». Seht, ich lerne etwas hier!
0927 Uhr, Kilometer 30, Schulden: + € 1'080'000
Am Friedhof von Rodopoli geraten wir in einen Hinterhalt.
Miller erstarrt. Jones leistet ganze Arbeit.
Clear.
Sie finden ein Quad. Miller fährt, Jones setzt sich hinter ihn. Miller hupt romantisch.
1009 Uhr, Kilometer 44, Schulden: + € 3'780'000
Miller und Jones erreichen Syrta. Es wird gebirgig.
Das Quad ist zwar schnell und bequem, aber fährt in wirklich jeden Hinterhalt, provoziert in jedem Dorf Feuergefechte. Das hat nichts mehr mit Wandern zu tun.
Die letzte Etappe drum lieber wieder zu Fuss.
Bevor sie sich auf den Weg machen, setzt sich Miller in die Kirche.
Es ist friedlich.
Der Wind rauscht, ein Vogel zwitschert, eine Grille zirpt.
Auch das hilft Griechenland nicht.
Sechs Kilometer bis Oreokastro. Ich hole den Laptop neben den PC und schaue mir nebenher einen Film mit Ryan Gosling an. Gosling fährt da mit dem Töff durch den Wald. Gleichzeitig, auf dem anderen Bildschirm, rennt Miller durch trockene Pinienwälder. Pinus pinea. Es sei umstritten, ob die aus Spanien, Sizilien oder Kreta stammen. Nach dieser Wanderung bin ich Botanik-König.
1041 Uhr, Kilometer 48, Schulden: + € 2'880'000
Es ist schön hier.
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1052 Uhr, Kilometer 50, Schulden: + € 990'000
Oreokastro hat schon bessere Zeiten gesehen. Es liegt schmuck, doch die Häuser sind verlottert.
Zwei Iraner bewachen es halbherzig, Miller und Jones schleichen an ihnen vorbei.
Der Aufstieg zum Thronos beginnt, dem höchsten Punkt der Wanderung.
1103 Uhr, Kilometer 51, Schulden: + € 990'000
Miller und Jones besuchen die Burgruinen auf Thronos. Sie posieren vor einer Statue. Sie bestaunen den Blick in den Westen aufs Meer. Hinterm Horizont hat Griechenland noch immer Schulden.
In diesem Moment weiss es Corporal Richard Miller: Er kann seinen Auftrag nicht erfüllen. Er ist gescheitert.
Noch drei Kilometer. Das Ende der Wanderung ist in Griffnähe.
Jetzt hält die Zwei nichts mehr. In der Diretissima räubern sie in Richtung Meer, 330 Höhenmeter hinunter.
1152 Uhr, Kilometer 54, Schulden: 376.932 Milliarden Euro
Nach fast sechs Stunden erreichen Miller und Jones ihr Ziel, einen kleinen Leuchtturm am äussersten nordwestlichen Zipfel der Insel.
Gleissendes türkisblaues Wasser.
Sanfte Wellen, der Orgelpunkt der Grillen.
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Miller scheint Jones' Hand halten zu wollen, zögert aber.
Sie warten auf den Hubschrauber.
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Man mag nun einwenden, man hätte Aufregenderes erleben können auf Altis. Mit dem mächtigen Szenario-Editor des Spiels wird die Community da auch allerlei Grossartiges veranstalten.
Doch ich bin stolz auf meine schlichte, lange Wanderung. Man legt heute in Spielen kaum noch Distanzen zurück. In «ArmA 3» ist das in einem Ausmass möglich, das ich so noch nie erlebt habe.
Oh, man hätte auch tauchen gehen können! In den nächsten Ferien vielleicht. Ich muss mich jetzt hinlegen.
«ArmA 3» ist für PC. Es ist ab 16. Die Inspiration für diesen Artikel war Jim Rossignols «Fuel: Around The World In Eight Hours» auf Rock Paper Shotgun.