Abgesehen vom Skifahren in den Bergen und gelegentlichem Wandern im Grünen verirrt sich der durchschnittliche Stadtmensch selten aufs Land. Und der Grossteil der Schweizer lebt in einem städtischen Gebiet. Nur rund 16 Prozent der Menschen in der Schweiz wohnen fernab von Autolärm und Leuchtreklamen, etwa 900 von ihnen im Bündner Safiental.
Das Safiental lebt die Idylle, wie sie sonst nur in Werbespots für Tourismus vorkommt: Schneebedeckte Berge, saftig grüne Wiesen mit grasenden Kühen und viele vereinzelte Bauernhäuser. Doch die jungen Menschen verlassen die Postkarten-Landschaft, in den letzten fünf Jahren hat das Bündner Safiental 20 Prozent seiner jungen Einwohner verloren.
Darum gehen junge Menschen
Gründe für junge Menschen, das Safiental zu verlassen, gibt es viele: Gerade einmal drei Lehrlinge werden im Tal jährlich gesucht, ein Nachtleben existiert nicht. Laura ist einer der jungen Menschen, die aus dem Tal in die Stadt gezogen sind. Nachdem sie sich als lesbisch geoutet hatte, fühlte sie sich im Dorf nicht mehr richtig wohl: «Ich hatte das Gefühl, dass Leute wie ich nicht hier hingehören.» Sie entschied sich, nach Chur zu ziehen, wo sie sich zum ersten Mal richtig zugehörig gefühlt habe. Mittlerweile wohnt sie, um Geld zu sparen, wieder bei ihren Eltern im Safiental, möchte aber so schnell wie möglich wieder in die Stadt. «Das Dorf muss noch offener werden», findet sie.
Das Safiental zu verlassen, kommt für Marco nur in Frage, wenn es unbedingt sein muss. Er wohnt schon sein ganzes Leben lang in Thalkirch, im hintersten Teil des Tals. «Man muss sich hier organisieren und sich auch mit dem Essen einteilen. Jeden Tag beim Bäcker frisches Brot zu holen, liegt nicht drin.» Trotzdem will er auch in Zukunft hier wohnen bleiben, auch wegen seines Hobbys. Er ist Bauernsohn und geht regelmässig an Viehschauen.
Der Grossteil der Menschen, die hier leben, arbeiten in der Landwirtschaft. So auch der Gemeindepräsident Thomas Buchli. Wenn man darüber spricht, dass Menschen dem Safiental den Rücken kehren, ist das für ihn auch eine emotionale Frage: «Das Safiental sich selbst zu überlassen und einfach Wald daraus zu machen, ist ein rein urbaner Gedanke. Wir haben hier unseren Lebensraum und wollen hier bleiben. Wir haben keine Lust, von hier wegzugehen.»
Was kann man gegen Landflucht unternehmen?
Dennoch darf man die Frage über die Zukunft des Tals nicht beiseite schieben. Das findet auch Stefan Forster, Leiter der Forschungsgruppe für Landschaft und Tourismus der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW): «Manchmal ist an einem Ort vielleicht keine Kraft vorhanden, um kreative Ansätze zu finden, die Abwanderung aufzuhalten. Oder es hat keine Leute, die das tragen können. Dann muss man sich die Frage auch einmal stellen, ob man das nicht einfach geschehen lassen will.»
In anderen Gebieten, wie dem Tessin, sei die Situation noch prekärer. «Ohne Landwirtschaftsunterstützung wären viele Täler in der Schweiz nicht mehr besiedelt», sagt Forster. Auch wenn die Frage unangenehm ist, die einzige Lösung ist, darüber zu diskutieren: «Man kann nicht ständig eine Lebenslüge aufrechterhalten und denken, dass man es schon irgendwie schafft.» Viele Dörfer sterben aus. Das wird nicht aufhören, wenn man keine Lösungen entwickelt.