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EURO 2024: Schweiz – England Djourou: «England sollte jeden Gegner überrollen, aber ...»

Zwei Männer unterhalten sich auf einem Fussballfeld.
Legende: Zwei Fachmänner im Gespräch RTS-Experte Johan Djourou und Nationaltrainer Murat Yakin. (Archiv) KEYSTONE/Laurent Gillieron

Johan Djourou kennt den britischen Fussball und die Presse auf der Insel seit seiner Zeit bei Arsenal London aus eigener Erfahrung. Vor dem EM-Viertelfinal gegen die Schweiz spricht der RTS-Experte über Stärken und Schwächen der «Three Lions» und die Chancen der Nati.

Johan Djourou

RTS-Experte und Sportlicher Koordinator Frauen-Nati

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Zwischen 2004 und 2013 spielte Johan Djourou 8 Saisons in der Premier League für Arsenal. Für die Schweizer Nati lief der Innenverteidiger zwischen 2006 und 2018 an 3 Weltmeisterschaften und einer EM auf. Im Herbst 2018 absolvierte er gegen England sein letztes von 76 Länderspielen und beendete 3 Jahre später seine Karriere. Heute begleitet der 37-Jährige als Co-Kommentator und Experte für RTS die Spiele der Schweizer Nati. Zudem wurde er vor wenigen Tagen zum Sportlichen Koordinator des Frauen-Nationalteams ernannt.

SRF Sport: Johan Djourou, wie haben Sie die ersten 4 Spiele Englands erlebt?

Johan Djourou: Da war nicht viel Dominanz oder auch Enthusiasmus zu sehen – und das von einer Mannschaft, die von den Einzelspielern her so unglaublich stark aufgestellt ist. Aber: England hat noch nicht verloren, und das macht es schwierig, ein Urteil über dieses Team zu fällen. Klar, von aussen betrachtet denkt man sich, dass sie jeden Gegner überrollen sollten, aber so funktioniert der Fussball nicht.

Gegen die Slowakei hatten die Engländer aber viel Glück und retteten sich erst in den letzten Minuten in die Verlängerung.

Das Spiel gegen die Slowakei ist ein gutes Beispiel dafür, dass England – auch wenn es nicht unbedingt gut spielt – den Gegner immer in Gefahr bringen kann. England hat das Spiel nach dem Gegentor dominiert, nur sind die Tore halt erst ganz am Ende gefallen. Niemand wird sagen, dass die Engländer bislang ein aussergewöhnlich gutes Turnier spielen. Aber sie sind noch im Turnier. Und manchmal sind es Momente, wie der Last-Minute-Treffer gegen die Slowakei, die der Schlüssel zum späteren Erfolg sein können.

Video
Dank Bellingham und Kane: England dreht Achtelfinal gegen die Slowakei spät
Aus UEFA EURO 2024 Clips vom 30.06.2024.
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 42 Sekunden.

Auch die englische Presse erwartet mehr. Lässt die Kritik aus der Heimat das Team kalt?

Im Fussball hat halt jeder etwas zu sagen. Die englischen Medien provozieren immer, um eine Reaktion zu bekommen; das ist Teil ihrer Kultur. Aber Spieler wie Harry Kane oder Jude Bellingham sind sich den enormen Druck aus ihren Klubs gewohnt, sie wissen, wie sie damit umgehen müssen. Auch auf Trainer Gareth Southgate trifft dies zu. Spitzensportler haben sowieso die Gabe, sich in einer Blase zu bewegen und Kritik nicht an sich herankommen zu lassen. Und wenn England am Ende die EM gewinnt, interessiert es niemanden mehr, wie es gespielt hat.

Können Sie die Kritik an Southgates Spielstil nachvollziehen?

England hat eine aussergewöhnlich gute Generation und es wäre schade, mit ihr einen Titel zu verpassen. Aber man darf nicht vergessen: Bevor Southgate übernommen hat, waren sie nirgends. Mit ihm sind die Engländer 2018 in den WM-Halbfinal gekommen, 2021 verloren sie unglücklich im Penaltyschiessen des EM-Finals. An der WM 2022 scheiterten sie am späteren Finalisten Frankreich, obwohl sie besser waren. Die Frage, die man sich stellen muss, ist: Kann Southgate das Team noch verbessern?

Fussballtrainer und Spieler mit enttäuschten Gesten während eines Spiels.
Legende: Trotz Viertelfinal-Einzug stimmt's bei England noch nicht Trainer Gareth Southgate und seine Spieler während der Partie gegen die Slowakei. KEYSTONE/DPA/Marcus Brandt

Wieso kann England nicht dominieren? Was läuft schief?

Ich denke, das grosse Problem ist, dass die richtige Balance im Team noch nicht gefunden wurde. England ist wohl das Team mit den meisten Topstars. Auf jeder Position hat es Spieler, die in ihren Vereinen absolute Leistungsträger sind: Von John Stones, Kyle Walker und Bukayo Saka über Cole Palmer, Phil Foden, Bellingham und Kane zu Ivan Toney. Southgate hat noch nicht herausgefunden, wie jeder Spieler seine Aufgabe erfüllen soll, ohne einem anderen in die Quere zu kommen. Bellingham nimmt mit seinem Spiel viel Platz ein, aber auch Foden und Saka brauchen Entfaltungsspielraum. Die Lösung ist nicht ganz einfach.

Gibt es noch andere Ansatzpunkte?

England ist bislang nicht fähig, richtig das Spiel zu machen. Sie sind vorne nicht effizient, sind nicht «deadly», wie die Engländer sagen. Ich sehe eine mögliche Ursache dafür in der Premier League. Sie ist die kompetitivste Liga, was die Intensität angeht. Gut möglich, dass die englischen Spieler müde von der langen Saison sind (Anm. d. Red. 24 von 26 Spielern im englischen Kader spielen in der Premier League).

Live-Hinweis

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Verfolgen Sie den EM-Viertelfinal der Schweizer Nati gegen England am Samstag ab 17:10 Uhr live auf SRF zwei und in der Sport App (Spielstart um 18:00 Uhr). Im Liveticker werden wir Sie den ganzen Tag über auf die Partie hinführen und einstimmen.

Auf Radio SRF 3 wird das Spiel durchgehend begleitet.

Trotz aller Kritik ist England weiterhin eine Macht. Wo liegen die grössten Stärken?

Da denke ich primär an die Physis der Engländer, das Tempo auf den Seiten und die Intelligenz eines Kane. Im Mittelfeld wird es ein richtiger Fight, ich hoffe, dass Granit Xhaka wieder zu 100% fit sein wird, denn Declan Rice ist ein echtes Pfund. Entscheidend wird es für die Schweiz auch sein, die anrollenden Angriffswellen der Engländer stoppen zu können und selber für Akzente zu sorgen.

Und wo hat England Schwächen, die es auszunutzen gilt?

Ihre linke Abwehrseite ist etwas anfällig. Kieran Trippier spielt im Klub rechts hinten und Fodens Stärke ist nicht die Defensive. Vielleicht kommt hinten Luke Shaw wieder ins Team, nachdem er fit ist, das wird man abwarten müssen. Insgesamt ist die englische Abwehr nicht über alle Zweifel erhaben, das hat auch das Gegentor gegen die Slowakei gezeigt. Mit ihrem Tempo könnten die Schweizer die Engländer durchaus ärgern.

Video
Die Schweizer Nati schlägt Italien hochverdient mit 2:0 und steht im EM-Viertelfinal
Aus UEFA EURO 2024 Clips vom 30.06.2024.
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 34 Sekunden.

Bislang spielte England mit demselben System und wechselte kaum und immer spät. Wird sich daran gegen die Nati etwas ändern?

Nimmt man die bisherigen Auftritte als Referenz, dann nein. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn Southgate das System oder wichtige Spieler auswechseln würde. Gut möglich, dass er vorne Foden oder Saka draussen lässt und dafür Palmer bringt. Im Mittelfeld rechne ich mit Kobbie Mainoo, denn Trent Alexander-Arnold und Conor Gallagher haben nicht funktioniert. Er wird aber auch nicht 6 Wechsel vornehmen wie die Italiener im Achtelfinal.

Löst sich der englische Knoten noch?

Man muss sich nur einmal die Niederländer anschauen. Auch sie haben in der Vorrunde nicht brilliert, im Achtelfinal aber Rumänien beim 3:0 überfahren. Und die Engländer sind noch stärker, man sieht es nur noch nicht. Gut möglich, dass sie irgendwann einmal leistungsmässig explodieren – ich hoffe aber nicht, dass es gegen die Schweiz passiert.

SRF zwei, Sportlive, 29.06.24, 17:10 Uhr

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