Am 8. Mai 1945 läuteten die Kirchenglocken im Westschweizer Porrentruy alle zwei Stunden. Jeweils fünf Minuten lang. Die Gedenkgottesdienste waren überfüllt, auf dem grossen Platz vor dem Stadthaus strömten Menschen aus allen Himmelsrichtungen zusammen.
In ihren Händen hielten sie brennende Kerzen. Endlich, Frieden! «Es war ein kollektives Aufatmen, aber es herrschte keine Euphorie», erzählt Simone Sieder-Gigandet. «So mancher fragte sich damals bang, ob dem Frieden wirklich zu trauen sei.»
«Die Grenze war nahe, es war naheliegend zu helfen»
Ihr Vater, dessen Brüder und ein paar seiner Freunde organisierten sich während des Krieges und unterstützten aktiv die französische Résistance. «Weil die Grenze sehr nahe war, war es naheliegend zu helfen», sagt Simone Sieder-Gigandet. «Unsere Familie lebte damals ein bisschen gefährlich, denn sie versteckte französische Deserteure und versorgten sie mit Lebensmitteln, mit Kleidern, mit Decken.» Und sie ergänzt: «Nicht weit von unserem Haus besass mein Vater einen Wald, von dort war man in wenigen Schritten in Frankreich. Mein Vater fuhr sehr oft an diese Grenze und darüber hinaus und wieder zurück. Immer mit dem Velo.»
Simone Sieders Vater Firmin Gigandet war sein Leben lang keiner Partei verpflichtet aber immer politisch aktiv und sei «in jeder Zeit Anti-Hitler gewesen». Er wollte «das Richtige tun», zeigte Zivilcourage und konnte sich dabei ganz auf seine ebenso mutige Frau verlassen. «Ich vergleiche meine Eltern immer als zwei Säulen, die ein Dach mittragen», sagt Simone Sieder-Gigandet, «die eine Säule hat der anderen Säule stets geholfen in Balance zu bleiben.» Mutter und Vater, ein perfektes Team: während er ein jüdisches Paar – das nach Holland wollte – über die Grenze schmuggelte, kochte sie in grossen Töpfen Suppe für alle. Ausserdem: In Porrentruy hätten alle Nachbarn, sogar die örtliche Polizei gewusst, was ihr Vater machte. «Er war einmal für zwei Tage im Gefängnis, ansonsten haben aber alle sein Tun und Wirken goutiert und weggeschaut», sagt Simone Sieder-Gigandet.
«Es war keine unbeschwerte Zeit»
Mit dem Kriegsende sei nicht alles plötzlich einfach geworden, sagt die ehemalige Dolmetscherin, Journalistin und Lehrerin. Beispielsweise dauerte die Rationierung der Lebensmittel noch länger an. Einkaufen konnte man nur mit gültigen Rationierungsmarken. «Hunger hatten wir nie gehabt, wir waren nicht arm, aber wir mussten sparen. So konnte meine Mutter uns in dieser Zeit keine neuen Kleider kaufen, es fehlte schlicht das Geld für Stoffe oder Wolle.
Zum Glück zogen damals Näherinnen von Haus zu Haus. Diese schneiderten zusammen mit der Mutter aus alten Gewändern der Erwachsenen neue Kleider für uns Kinder. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern: Denn ich sass immer mit am Nähtisch und schneiderte Röcke für meine Puppe.»
Sieders Vater Firmin Gigandet besass die Uhrenfabrik «Ateliers Theurillat- Gigandet» und beschäftige vor dem Krieg 40 bis 50 Mitarbeiter. Ab 1945 musste er fast wieder bei Null starten, Mitarbeiter wiedereinstellen, Aufträge einholen. Anderen ging es ähnlich. «Vor dem Krieg hatten wir in Porrentruy drei Metzgereien, nach dem Krieg nur noch eine», erzählt Sieder-Gigandet. «Es brauchte grosses Durchhaltevermögen, um wieder wirtschaftlich Fuss zu fassen.»
Und es brauchte Zeit, um wieder Normalität zu erlangen. «Der Krieg war so schrecklich, niemand konnte danach sofort wieder an seinen Alltag vor dem Krieg anknüpfen, die Menschen mussten das Geschehene erst verdauen. Auch in der kriegsverschonten Schweiz.»
«Der Blick auf die Welt hat uns Kinder stark gemacht»
Ab 1947 kamen viele ehemalige Résistance-Kämpfer und Deserteure – oft zusammen mit ihren ganzen Familien – auf Besuch nach Porrentruy, um sich beim Vater für seine Hilfe zu bedanken. Simone Sieder-Gigandet erzählt: «Das war eine spannende Zeit, besonders für uns Kinder. Und wir kriegten Geschenke von unseren Gästen – ein Spielzeug, ein Taschentuch oder sonst eine hübsche Kleinigkeit. Es war das ganze Jahr Weihnachten.»
Diese Zufallsbekanntschaften während des Krieges entwickelten sich teilweise zu lebenslangen Freundschaften der Familie Gigandet. «Wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte wir viele von diesen grossartigen Menschen nie kennengelernt», sagt Sieder-Gigandet. «An unserem Familientisch sassen immer Gäste: es wurde diskutiert, philosophiert, politisiert. Das hat uns Kinder stark gemacht. Und wir haben einen anderen Blick auf die Welt bekommen. Daraus nährte sich meine Neugier auf die Welt und Menschen, die anders leben als ich selbst. Dafür bin ich heute noch dankbar.»