Am 8. Mai 1945 war ich in der zweiten Klasse und sieben Jahre alt. Lesen konnte ich bereits. Denn am 3. Februar 1943 entzifferte ich meine erste Schlagzeile – in Frakturschrift natürlich – im «Bund»: «Stalingrad gefallen».
Wie habe ich den 8. Mai 1945 erlebt? Ich erinnere mich ans Glockengeläute und wir bekamen an diesem Werktag schulfrei. Über die Tragweite der Ereignisse machte ich mir keine Gedanken, aber die Erwachsenen zeigten starke Emotionen, Erleichterung, Dankbarkeit, Nachdenklichkeit, aber keine ausgelassene Freude.
Verzicht auf Vaters Geschenke
Klar war mir, dass einige Dinge, die das Leben spannend machten, nun zu Friedenszeiten wegfallen würden. Der Vater würde nicht mehr in den Dienst müssen und damit würden auch die Geschenke, die er uns Kinder aus jeder Dienstperiode heimbrachte – ein Ball, ein Reif, ein «Bäbi» für die Schwester, ein Plüschtier für die jüngeren Brüder – wegfallen.
Mir war klar, dass einige Dinge, die das Leben spannend machten, nun zu Friedenszeiten wegfallen würden.
Wegfallen würden auch die Altstoffsammlungen. Wir suchten zusammen, was es im Haus an Alteisen und Blech und Sonstigem gab, brachte es mit dem Leiterwagen auf den Schulhausplatz und fanden sicher im Altmetallhaufen einen brauchbaren Gegenstand, den wir unbemerkt nach Hause nehmen konnten.
In bester Erinnerung ist mir auch die Verdunkelung. Gelegentlich kam der Kontrolleur vorbei und vergewisserte sich, dass die Lichtschlitze der Fensterläden von innen mit schwarzer Dachpappe abgedeckt waren. Im Winter war die Seestrasse dunkel, weil keine Strassenlampen brannten. Mein Vater – er war Lehrer an der Dorfschule – hatte oft mit der Gemeindeverwaltung in Sigriswil zu tun.
Das war ein stündiger Marsch nach Sigriswil, zu dem mich Vater gelegentlich mitnahm. Mit der Rechtsufrigen Thunerseebahn nach Gunten und von dort mit dem Postauto nach Sigriswil zu fahren, kam nicht in Frage. Das mit Holzvergaser betriebene Postauto fuhr ohnehin nur zwei- oder dreimal im Tag oder gar nicht. Spannend war jeweils der Heimmarsch von Sigriswil nach dem Einnachten durch den Wald nach Merligen. Die Taschenlampe half nicht viel, sie hatte ein blaues Glas vor der Glühbirne. Unsere Augen aber gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, und so konnten wir den Weg sehen.
Kindheit im Reduit
Ich wuchs in Merligen auf; Politik und Kriegsgeschehen waren auch dort präsent. Dass man während der Mittags-Nachrichten der schweizerischen Depeschenagentur um 12.30 Uhr keinen Mucks machen durfte, war klar. Gelegentliche ausländische Ferienkinder wurden ungeachtet ihrer Nationalität als Spielgefährten akzeptiert, vom Hintergrund ihrer Kriegserlebnisse erfuhren wir wenig.
Im Dorf wusste man sehr gut, wer etwa bräunlich eingefärbt war. Das Braun verblasste dann bei nahendem Kriegsende zusehends. Nicht beliebt waren auch einige Basler Familien, die ihren Feriensitz zum ständigen Wohnsitz gemacht hatten. Die Schokoladenfamilie Sprüngli aus Zürich besass ein grosses Ferienhaus etwas oberhalb des Vorderdorfes, diskret von Wald umgeben.
Die Sage ging, ihr ganzer Keller sei mit Schokolade gefüllt. Natürlich wurde mehrmals eingebrochen, so dass die Sprünglis die Fenster vergittern und eine Alarmanlage einrichten liessen. Diese Alarmanlage liess sich bequem mit einigen gezielten Steinwürfen auslösen. Unsere Neuntklässler beherrschten die Technik glänzend, und wir Unterschüler bewunderten sie dafür masslos. Wenn die Alarmanlage losging, musste die von den Sprünglis angestellte Hauswartin, Frau Salvisberg, sofort zum Chalet Sprüngli rennen. Das tat sie allerdings nur ein paar Wochen lang. Als die Sirene niemanden mehr alarmierte, wurde sie abgeschaltet.
Spuren der Kriegsrealität
Alles in Allem: meine Erinnerungen ans Kriegsende sind wohl sehr untypisch. Der Krieg war in Merligen weit weg, die Armee war ja da, sie würde uns schützen. Die Besorgnis der Erwachsenen fand ich übertrieben. Dass es fleischlose Tage gab und nur sehr selten Schokolade, wurde reichlich wettgemacht, durch das, was an Interessantem im Reduit passierte. Einen kleinen Vorteil des Kriegsendes sah ich in der Erwartung, dass nun die Dampfschiffe wieder häufiger fahren würden, weil es ja wieder Kohle gäbe.
Mit der Realität des Krieges, eher mit Spuren einer Realität, wurde ich nur einmal konfrontiert. Das war der Bombenabwurf über Riggisberg in der Nacht zum 13. Juli 1943. Ein alliiertes Bombergeschwader von ungefähr 100 Flugzeugen war auf dem Weg nach Turin und machte wegen des schlechten Wetters Notabwürfe. Zum Glück gab es nur Sachschäden.
Der 8. Mai 1945 hat mein Interesse an den Geschehnissen zwischen 1939 und 1945 ausgelöst.
Der 8. Mai 1945 hat, obwohl ich mir seiner historischen Tragweite nicht bewusst war, mein Interesse an den Geschehnissen zwischen 1939 und 1945 ausgelöst oder mindestens verstärkt. Deshalb begann ich nun, die sechs Bände des «Grossen Weltgeschehens» intensiv zu studieren. So wurde ich 1946 auch erstmals mit den grausigen Bildern aus den deutschen Vernichtungslagern konfrontiert. Daraus resultierten die ersten schlaflosen Nächte meines Lebens.