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Mit solchen Plakaten für Auswanderungsagenturen (zu sehen oben in der Bildmitte) wurden Tessinerinnen und Tessiner dazu ermuntert, auszuwandern. Im Bild: Der Dorfplatz von Biasca vor 1915.
ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Fel 11080-RE
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Inhalt

Viel mehr als nur Tränen: Tessiner Emigrationsgeschichte(n)

Im 19. Jahrhundert, vor allem zwischen 1850 und 1900, zwang der Hunger Tausende von Tessinern auszuwandern. In dieser Zeit führten gerade im Maggiatal grosse Überschwemmungen zu Ernteausfällen und Krankheiten. Die Werbung von Reisebüros lockte viele auch nach Australien. Mit katastrophalen Folgen.

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Zeitzeuge Arthur Nicolas, 75, kennt die falschen Heilsversprechen dieser Reisebüros aus der eigenen Familiengeschichte. Dass er nicht im Tessin, sondern in Kalifornien aufgewachsen ist, verdankt er seinen beiden Urgrossvätern. Diese gingen nach Australien, um Gold zu suchen. Als sie ankamen, gab es aber kein Gold mehr. Der eine Grossvater hatte für die Überfahrt sein Land verpachtet. Er blieb in Australien und stürzte zu Hause im Maggiatal seine Familie in bittere Armut.

Die Frauen und Kinder waren die Leitragenden der Tessiner Emigration, ordnet Historiker Luigi Lorenzetti ein. Im Maggiatal emigrierten so viele Männer, dass um 1900 die Hälfte der Frauen Singles waren – ein europaweit einzigartiges Missverhältnis.

Das starke Bild der Armut, das im 19. Jahrhundert so viele Tessiner zwang, auszuwandern, hat aber das kollektive Gedächtnis einseitig geprägt, sagt der Historiker. Emigration wird damit fälschlicherweise ausschliesslich negativ konnotiert. So geht vergessen, dass viele Tessiner Emigranten sehr erfolgreich waren und mit ihrem erworbenen Reichtum für ein fortschrittliches Sozialsystem in ihrem Heimatkanton sorgten.

Zu Gast in dieser Zeitblende sind:

  • Arthur Nicola, direkter Nachfahre von Emigranten aus dem Maggiatal
  • Angelo Comisetti, Kurator Piccolo Museo von Sessa
  • Luigi Lorenzetti, Historiker

Feedback, Fragen oder Wünsche? Nehmen wir gerne entgegen unter zeitblende@srf.ch

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Audiotranskript

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Dieses Transkript wurde automatisch erstellt und nur formal überarbeitet, daher kann es Ungenauigkeiten und Fehler enthalten.
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Karoline Thürkauf:
Nichts zu essen, viele Kinder. Und dann verlässt der Vater die Familie, um im Ausland sein Glück zu finden. Im Tessin war das lange Zeit keine Seltenheit. In den letzten Jahrhunderten war er ein regelrechter Auswandererkanton. Zehntausende von Tessiner Kindern wuchsen ohne Vater auf oder sahen ihn nur sehr selten.
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Angelo Comisetti:
Stell dir vor, die meine sind Ende Februar verreist, und die sind erst Ende November zurückgekommen. Und die Familien sind sehr gross. Sie 10 bis 12 und noch mehr Kinder ist normal. Und die arme Frau hätte alles sein müssen. Machen so eine grosse Familie ernähren, Landwirtschaft, trieben, Stall usw.
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Karoline Thürkauf:
Im 19. Jahrhundert suchten viele Männer ihr Glück in Amerika. Davon erzählt uns Arthur Nicola, den wir mit viel, viel Glück treffen konnten. Denn der gebürtige California kehrt nur alle zehn Jahre ins Maggiatal zurück, dahin, wo seine Eltern geboren wurden. Wenn der heute 75-jährige Mann an seine Mama und damit an das Maggiatal denkt, kommen ihm die Tränen.
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Arthur Nicola (nachgesprochen, Original in Englisch):
Meine ersten fünf Lebensjahre sprachen wir zu Hause. Nur den Dialekt aus dem Maggiatal. Meine Mama sagte. Denk dran, du bist zwar in Kalifornien geboren, aber im Maggiatal aufgewachsen. Das stimmte schon irgendwie. Wir haben Landwirtschaft betrieben wie im Maggiatal.
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Karoline Thürkauf:
Viele Tessiner Auswanderer wurden im Ausland erfolgreiche Unternehmer. Diejenigen, die zurückkehrten, sorgten mit ihrem Wissen und Geld zu Hause für Aufschwung. Wir räumen in dieser Zeitblende auch auf mit dem Mythos, dass das Tessin nur ein armer Auswanderer Kanton war. Am Mikrofon Carolin Thürkauf.
Wir schlagen jetzt Kapitel eins dieser Zeitblende auf. Titel: Warum sehr viele europäische Städte Tessiner Spuren haben. Wir sind im Dörfchen Seza, in der malerischen Hügellandschaft der Region Malcantone nahe Lugano. Dort treffen wir Angelo Comisetti. Er kennt die Tessiner Emigrationsgeschichte aus eigener Erfahrung. Der feingliedrige Mann arbeitete als junger Mann vier Jahre in Zürich und kehrte dann als Betriebsleiter ins Tessin zurück, anders als seine Vorfahren.
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Angelo Comisetti:
Ich habe meinen Vater sehr wenig gesehen. Und mein Vater ist sogar in Schaffhausen gestorben, mit 44 Jahren. Meine Mutter ist zurückgeblieben mit vier Kindern, die alle gleich sind. Und sie hat uns trotzdem großgezogen.
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Karoline Thürkauf:
Der 83-jährige Angelo Comisetti ist eine sehr geschichtsinteressierte Person. Mit Leidenschaft kuratiert er das Ethnographische Museum von Cesar. Dieses bildet das Dorfleben der vergangenen Jahrhunderte ab. Ein Teil des Museums ist eine typische Tessiner Küche aus dem 19. Jahrhundert. Wie in den allermeisten Tessiner Küchen war über dem Kamin ein großer, starker Nagel angebracht. An diesem hing während neun Monaten das Horn, die Trompete oder Klarinette, das die Männer an den Nagel hingen, bevor sie wieder in die Ferne zogen. Angelo Comisetti zeigt mir ein Horn, das nur drei Monate im Jahr gespielt wurde.
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Angelo Comisetti:
Ich meine, über drei Monate. Sie sind Ende November bis Ende Februar. Die Musik spielt und die alte Dorffeste sind in der Zeit gemacht worden und dann sind manche weggegangen. Aber die haben nie gesagt wir gehen jetzt schlafen. Die haben gesagt, wir sind als Instrument auf den Nagel hängen. Das ist ein Zeichen, dass wir fort müend. Und er ist geblieben, bis wir wieder zurück sind.
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Karoline Thürkauf:
Kamen sie zurück, schmetterten sie Märsche oder sangen Opernarien? Sehr viele Männer des Malcantone arbeiteten als Bauarbeiter, Stuckateure oder Architekten in Italien, aber auch in entfernten Ländern wie Ägypten oder Russland.
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Angelo Comisetti:
Und ich behaupte, dass es in Europa keine einzige Stadt gibt, wo Seeleute irgendeiner Festung Akile oder Palastbauten oder wenigstens dekoriert haben, zum Beispiel der Domenico Fontana von Astana, der St.Petersburg gebaut hat. Er ist vom Zar Peter der Große nach Russland bestellt worden und er hat Sankt Petersburg plant und baut.
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Karoline Thürkauf:
Diese Worte des stolzen Angelo Gommisetti sind keine Übertreibung. Das bestätigt Historiker Luigi Lorenzetti. Er leitet an der Universität der italienischsprachigen Schweiz das Institut für die Geschichte der.
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Luigi Lorenzetti (nachgesprochen, Original in Italienisch):
Viele Städte weisen Tessiner Spuren auf, besonders im Bausektor. Es gab Tessiner Architekten, Bauführer, Maurer, Schreiner. Wir finden ihre Spuren in allen größeren Städten des Ostens, so in Budapest oder in Wien. Wir finden sie in vielen deutschen Städten und in den italienischen sowieso.
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Karoline Thürkauf:
Das sei bemerkenswert, sagt der Historiker. Denn die Märkte der Neuzeit, also im 16., 17. und 18. Jahrhundert, wurden eigentlich von den Einheimischen dominiert. Als Fremder konnte man in diesem polnischen, französischen oder der italienischen Markt nur bestehen, wenn man handwerklich sehr gut war und auch gut vernetzt war. Diese Tessiner Fachkräfte waren sehr zahlreich, sagt der Historiker. Denn jede Tessiner Region hatte früher ihre eigene Spezialität. Mit diesem Wissen gelang es ihnen sogar, in Italien Monopole aufzubauen und sehr reich zu werden. Bis anfangs des 19. Jahrhunderts emigrierten die meisten Tessiner, weil sie mit ihren Fähigkeiten im Ausland mehr Geld verdienten als zu Hause, wo sie fast nur Bauern konnten. Dann aber kam die Industrialisierung und das Blatt wendete sich. Viele kleinere Handwerksarbeiten im Ausland wurden unnötig. Zudem brachten die Schiffe vermehrt günstigere Ware aus Südamerika. Die heimische Produktion verlor an Bedeutung.
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Luigi Lorenzetti (nachgesprochen, Original in Italienisch):
Die lokale Kornproduktion zum Beispiel rentierte nicht mehr. Viele Arbeitsplätze gingen verloren. Zuletzt waren sie vielfach gezwungen, im Ausland ihr Glück zu versuchen. Viele gingen auch nach Amerika. Treiber dieser Entwicklung waren die Reisebüros.
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Karoline Thürkauf:
Die meisten dieser Reisebüros waren in Basel. Ihre Werbung war sehr effektiv, sagt der Historiker.
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Luigi Lorenzetti (nachgesprochen, Original in Italienisch):
Die Botschaft war Du musst nur die Fahrkarte für die Reise nach Amerika bezahlen, und dann wirst du reich. Das war natürlich nicht so.
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Karoline Thürkauf:
Besonders in Australien war der starke Einfluss dieser Reisebüros katastrophal.
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Luigi Lorenzetti (nachgesprochen, Original in Italienisch):
Etwa 2000 Tessiner fuhren dorthin, um Gold zu finden. Als sie aber ankamen, gab es kein Gold mehr. Sie haben sich für diese Reise stark verschuldet. Eine Fahrkarte kostete mindestens den Jahreslohn eines Bauern. Viele haben für eine Fahrkarte ihre Ländereien oder ihr Haus verkauft. Die, die nach der harten Landung in Australien noch Geld hatten, fuhren nach Amerika weiter. Viele aber strandeten in Australien und lebten dort in bitterer Armut.
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Karoline Thürkauf:
Der Mann, der hier Akkordeon spielt, kennt die falschen Heilsversprechen der Reisebüros aus eigener Familiengeschichte. Sein Urgroßvater wanderte mit einem solchen Reisebüro aus. Kapitel zwei Die Geschichte von Zeitzeuge Artur Nicolas. Wir haben großes Glück, dass wir seine Geschichte einfangen können. Der 75-jährige Computeringenieur aus Kalifornien kehrt nämlich nur alle zehn Jahre zurück ins Maggiatal, ins Dorf seiner Vorfahren. Im Sommer dieses Jahres ist es wieder so weit. Ich treffe ihn.
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Arthur Nicola (nachgesprochen, Original in Englisch):
Ich wurde in Kalifornien geboren. Nach Gordevio kam ich das erste Mal 1969 als 20-Jähriger. Das war für mich eine Offenbarung. Ich wuchs auf im Geschichtslosen Amerika und plötzlich war ich in einem alten Ort und lernte meine Wurzeln kennen. Kirchliche Quellen zeigen, dass meine Herkunftsfamilien bereits im 15. Jahrhundert in Gordevio lebten.
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Karoline Thürkauf:
Und dann zuckte es um seine Mundwinkel und die Tränen fließen.
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Arthur Nicola (nachgesprochen, Original in Englisch):
Entschuldigen Sie, das ist wegen meiner Mutter. Ich war ihr ältester Sohn. Sie weinte häufig, weil sie das Mattertal so sehr vermisste. Ich wuchs in armen bäuerlichen Verhältnissen auf. Mit der Zeit aber ging es besser. Meine Besuche im Tessin sind für mich immer eine Herzensangelegenheit.
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Karoline Thürkauf:
Dass er nicht im Tessin, sondern in Kalifornien aufgewachsen ist, verdanke er seinen beiden Urgroßvätern, sagt Arthur Nicolas. Und er erzählt die typische Geschichte einer erfolglosen Goldsuche in Australien.
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Arthur Nicola (nachgesprochen, Original in Englisch):
Meine Urgroßväter suchten erfolglos Gold in Australien. Der eine kehrte zurück, der andere nicht. Für die sechsmonatige Schiffsreise machte er bei der Gemeinde Schulden im Wert von 900 Franken. Als er nicht mehr zurückkam, hat die Bank sein Grundstück genommen. Meine Urgroßmutter und mein damals sechs Monate alter Grossvater mussten um ihr Überleben kämpfen.
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Karoline Thürkauf:
Seine Grossvater ging dann als junger Erwachsener für fünf Jahre nach Kalifornien, um dort zu arbeiten.
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Arthur Nicola (nachgesprochen, Original in Englisch):
Alle Tessiner verdienten ihre ersten Dollars mit Kühe melken. Mein Großvater kehrte aber ins Maggiatal zurück, heiratete meine Großmutter, und sie hatten zwölf Kinder. Mein Vater war der Jüngste. Sieben seiner Geschwister wanderten aus. Auch er wollte in Kalifornien Geld verdienen. Alle sprachen sie immer von Amerika.
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Karoline Thürkauf:
Schätzungsweise bis zu 20.000 Tessiner wanderten nach Amerika, meist nach Kalifornien, aus. Viele mussten anfangs hart unten durch, erarbeiteten sich langsam, aber stetig Wohlstand wie sein Vater auch. Dieser war als junger Mann nach Amerika gegangen.
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Arthur Nicola (nachgesprochen, Original in Englisch):
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte mein Vater nach Gordevio zurück und heiratete meine Mutter. Diese verkaufte ihre Ziegen und sie zogen zusammen nach Kalifornien, wo ich geboren wurde.
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Karoline Thürkauf:
Sein Vater erwarb ein Stückchen Land und zwei Kühe. Sie lebten sehr bescheiden. Sie mähten das Gras von Hand. Wil Mattertal, erzählt Arthur Nicolas.
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Arthur Nicola (nachgesprochen, Original in Englisch):
Meine ersten fünf Lebensjahre sprachen wir zu Hause nur den Dialekt aus dem Maggiatal. Meine Mama sagte Denk dran, du bist zwar in Kalifornien geboren, aber in Maggiatal aufgewachsen. Das stimmte schon irgendwie. Wir haben Landwirtschaft betrieben wie im Maggiatal.
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Karoline Thürkauf:
Arthur. Nicola ist nicht ins Maggiatal zurückgekehrt. Er hat am renommierten Berkeley College studiert und wurde Computeringenieur. Er lebt mit seiner Familie im Monterey Valley, dort, wo viele andere Nachfahren von Tessiner Auswanderern leben. Zusammen machen sie Tessiner Musik, singen anlässlich des ersten Augusts Lieder aus dem Maggiatal. Mithilfe der Musik könne er die Sprache und damit die Erinnerung an seine Wurzeln wenigstens noch ein bisschen pflegen, sagt er aufgestellte Mann wehmütig.
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Arthur Nicola (nachgesprochen, Original in Englisch):
Ich würde gerne den Dialekt meiner Kindheit sprechen, aber es ist schwierig, denn es gibt kaum jemanden mehr, der diesen alten Dialekt aus Gordevio spricht. Es ist ein sehr spezieller Dialekt. Der Klang dieser Sprache berührt mich sehr.
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Karoline Thürkauf:
Mit seinen 75 Jahren ist Arthur Nicholas einer der wenigen noch lebenden direkten Nachkommen von Tessiner Amerika Auswanderern des 19. Jahrhunderts. Seine Geschichte ist beispielhaft, sagt Historiker Luigi Lorenzetti. Die allermeisten Tessiner Amerika Auswanderer fingen mit Kuhmelken an, in Kalifornien haben es viele Tessiner mit ihrer Vieh oder Rebzucht zu Wohlstand gebracht. Wenig zu lachen hatten in der Tessiner Emigrationsgeschichte andere die Daheimgebliebenen. Kapitel drei: Das harte Los der daheim gebliebenen Bauern und Frauen. Arthur Nicholas Urgroßvater liess seine Urgroßmutter mit ihren kleinen Kindern zurück. Eine Geschichte, die absolut kein Einzelfall ist. Im Gegenteil, ordnet Historiker Luigi Lorenzetti ein.
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Luigi Lorenzetti (nachgesprochen, Original in Italienisch):
Es gibt viele Männer, die nicht zurückkehren konnten oder wollten. Die zurückgelassene Frau war mit ihren Kindern zu Armut und Hunger verurteilt. Diese Frauen konnten nicht mehr neu heiraten, denn auf dem Papier waren sie immer noch verheiratet. Für die Frauen war es sehr schwierig. Sie hatten in der Regel ja zehn Kinder zu versorgen.
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Karoline Thürkauf:
Dem Tessiner Maggiatal sind so viele Männer ausgewandert und nicht mehr nach Hause gekommen, dass daraus ein massives Geschlechtermissverhältnis resultierte. Dieses sei europaweit einzigartig. Der 83-jährige Angelo Comisetti, der das Dorfmuseum in Sessa nahe Lugano betreut, kennt aus vielen historischen Quellen und oralen Überlieferungen den Alltag der Tessiner Frauen, die vor 100, 200 oder 300 Jahren für immer oder neun Monate im Jahr alleine zurückblieben.
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Angelo Comisetti:
Oft sind in Erwartung sie will der Mann, wenn die Furka sie sind Frau ist und erwarte ich sie und ihr Mann die erste Neugeborene. Ein Jahr später sehe ich und wieder sind Kinder gestorben und ich und wieder auch Mütter. Die Frau, die bis zum letzten Tag schaffen müssen, mit so grosser Familie und mit so viel Arbeit. Sommer hat wenig Ertrag gebracht im Herbst, so dass so eine grosse Familie praktisch nicht gehabt. Frauen sind eine Art Lasttier bei uns in Sessa. 1860 bis 18 180. Frauen, die einen aus der Goldmine, das goldhaltige Mineral nach Molina Dazu braucht sie nur drei Kilometer ungefähr. Aber mit 50 Kilo auf dem Rücken ist natürlich nicht so einfach für wenige Rapper. Die haben praktisch nichts verdient. Aber wenig ist besser als nichts.
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Karoline Thürkauf:
Weniger ist besser als nichts. Davon sprechen auch die drei jeweils 300 Seiten dicken Tagebücher eines Bauern aus Breno, die Angelo Comisetti jetzt auf den Tisch legt.
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Angelo Comisetti:
Er hat sein Leben lang Buch geführt, wann sie nicht alt wurden. Trotz, dass er immer verhungert ist. Als junger Mann hat er auch eine Ziegelei in Italien geschaffen, aber auch in der Gegend. Das ist schwierig. Die einzige Industrie, die da ist eine Ziegelei, die Dachziegel zur Sache gemacht hat. Und zum Zweiten hat er immer Gelegenheitsarbeiten gemacht für Dritte zum Beispiel Straßen und Wege, Instandhaltung, Trockenmauern und so Sachen. Am Ende seines Lebens schreibt er, dass ihm immer schlecht gegangen ist. Sein Leben war sehr hart. Er hat oft Hunger gehabt, hatte sogar Schulden müssen machen, um etwas zu essen kaufen können. Zum Beispiel. Er schrieb am 31. Mai 1821 sehr wenig zu essen. Seit drei Wochen essen wir nur Erdäpfel und Bohnen. Hat schon etwas ge. Sonst wäre er gestorben. Natürlich.
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Karoline Thürkauf:
Dieser Bauer lebte von 1797 bis 18 183. Solche Tagebucheintragungen kennt. Historiker Luigi Lorenzetti. Er sagt Früher galt als erfolgreich, wer auswanderte oder zumindest als Saisonnier arbeitete. Gewinner waren die Emigranten. Die Südschweiz hat von ihnen massiv profitiert. Mehr dazu im vierten und letzten Kapitel dieser Zeitblende. Titel: Aufräumen mit Mythen. Wer über die Tessiner Emigration spricht. Und deren Bild im kollektiven Gedächtnis kommt nicht herum. Um den Schriftsteller Plinio Martini. Der 1979 Verstorbene ist einer der meistgelesenen Tessiner Schriftsteller. Er selbst wurde im Maggiatal geboren und hat das Bild des harten Talalltags und der Emigration geprägt wie kein anderer. Unter anderem in seinem Bestseller Nicht Anfang und nicht Ende hören wir einen kurzen Ausschnitt davon aus dem Literaturclub des letzten Jahres.
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Thomas Sarbacher liest 2023 im «Literaturclub» aus Plinio Martinis «Nicht Anfang und nicht Ende»:
Als ich zur Schule ging, hatten mehr als die Hälfte meiner Kameraden schon Vater oder Mutter verloren. Da sah man, was bei unserem ständigen Herumkraxeln zwischen den Ginsterstauden herauskam. Von den Kindern wollen wir gar nicht reden. Indes die Großen ihre Arbeit nachgingen, waren sie sämtlichen Gefahren ausgeliefert. Sie verbrannten, während die Mutter am Fluss die Wäsche wusch. Sie gossen unter den Augen der Person, die sie hütete, den Kessel mit kochender Lauge über sich. Sie starben an Diphtherie und Keuchhusten, manche auch, weil man sie sozusagen nur mit Luft und Liebe ernährte.
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Karoline Thürkauf:
Martini prägt, als er auch in der Deutschschweiz das Bild der bettelarmen Südschweiz. Ein Bild, das so generell falsch ist. Denn es stimmt nur für eine ganz bestimmte Zeitperiode, sagt der Historiker Luigi Lorenzetti.
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Luigi Lorenzetti (nachgesprochen, Original in Italienisch):
Plinio Martini erzählt von der historischen Periode der Emigration aus Armut. Aber es handelt sich dabei eben um eine sehr genau definierte zeitliche Periode und nicht um ein generelles Phänomen.
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Karoline Thürkauf:
Im 19. Jahrhundert, also vor allem zwischen 1850 und 1900, zwang der Hunger die Menschen, auszuwandern, sagt Lorenzetti. In dieser Zeit führten gerade im Maggiatal grosse Überschwemmungen zu Ernteausfällen und Krankheiten. Zudem errichtete Österreich im Kontext des Krieges mit Sardinien ein Embargo gegen den Kanton Tessin, weil dieser viele sardische Flüchtlinge aufnahm. Die Folge davon war eine grosse wirtschaftliche Krise, weil das Maggiatal fast sein ganzes Import Export Geschäft mit Italien, konkret der Lombardei, aufgeben musste. In dieser sehr schwierigen Zeit wanderte rund 1/3 der Bevölkerung ab. Menschen wie die Vorfahren von Artur. Denn wer im zweiten Kapitel dieser Zeitblende kennengelernt haben Ende des 19. Jahrhunderts, verbesserte sich die Situation. Neue Wirtschaftszweige wie der Tourismus kamen auf. Weil aber diese, nennen wir sie Hungerjahre des 19. Jahrhunderts und als Folge davon die Abwanderung so einschneidend waren, geht der Rest vielfach im kollektiven Gedächtnis unter, sagt Historiker Lorenzetti.
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Luigi Lorenzetti (nachgesprochen, Original in Italienisch):
Im Unterbewusstsein der Tessiner ist das Negativbild dieser Emigration aus Armut so stark verankert, dass sie es generell vermeiden, über die Emigration zu sprechen.
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Karoline Thürkauf:
Der Historiker bedauert das, denn dadurch geht vergessen, dass es vor allem die Emigranten waren, die dem Tessin Reichtum bescherten. Diese Emigranten oder zumindest Saisoniers sorgten auch dafür, dass die Kinder im Tal lesen und schreiben konnten. Sie wussten, wie wichtig der Zugang zur Bildung ist für ein selbstständiges Leben. Die Bildung war aber nur eine Errungenschaft, die das Geld der Emigranten ermöglichte, sagte Lorenzetti am Schluss dieser Sendung. Das Tessin profitierte nämlich noch viel mehr von ihren finanziellen Zuwendungen. Dazu hat er kürzlich eine Studie verfertigt, mit überraschendem Ergebnis, wie er sagt, in der.
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Luigi Lorenzetti (nachgesprochen, Original in Italienisch):
Die Emigranten haben den schwachen Staat unterstützt. Sie haben kleine Spitäler gebaut, sie gründeten Kindergärten. So konnten die Frauen besser arbeiten. Die Immigranten brachten auch einen unternehmerischen Geist nach Hause. Die ersten Tessiner Bauunternehmer waren ehemalige Emigranten. Einer von ihnen baute in Locarno zum Beispiel die Standseilbahn Madonna del Sasso.
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Karoline Thürkauf:
Diese Standseilbahn ist auch heute bei Tessiner Touristen und Touristinnen sehr beliebt. Wer weiss, vielleicht gucken Sie nach dieser Zeitblende mit einem anderen Blick auf diese steilen Tessiner Täler. Mich würde das auf jeden Fall freuen. Und vielleicht denken Sie beim Klang von Kuhglocken ja künftig auch an die Geschichte von Arthur Nicolas. Er kriegt das Schlusswort in dieser Zeitblende.
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Arthur Nicola (nachgesprochen, Original in Englisch):
Als ich klein war, hatten wir in Kalifornien zwei Kühe, und meine Mutter sorgte dafür, dass diese Kühe Glocken aus dem Maggiatal aus Gordevio trugen. Kuhglocken waren das Geräusch meiner Kindheit. Höre ich sie heute, ist das für mich sehr emotional. Wir sagten den Glocken im alten Gordevio-Dialekt: «Chuqueta vag».
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Karoline Thürkauf:
Das war die Zeitblende. Am Mikrofon war Carolin Thürkauf. Haben Sie Feedback oder Themenvorschläge? Melden Sie sich: zeitblende@srf.ch.

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