Jacques Loussier ist der Urvater des Crossover. Der französische Pianist verschmolz Bach und Jazz. Dass es dazu kam, war ein Zufall. Als Student hielt sich Loussier in Tanzkapellen mit musikalischen Gelegenheitsjobs über Wasser. An einem Wettbewerb verlor er inmitten eines Bachpräludiums den Faden. Zum Entzücken der versammelten Professoren improvisierte er einfach weiter. 1953 hörte er zudem in Paris ein Konzert des Modern Jazz Quartet, das Bach mit Jazz und Improvisation verband. Loussier war begeistert.
Seine ersten Platten mit Jazzarrangements nahm Loussier 1959 mit seinem Trio Play Bach auf. Sie verkauften über sechs Millionen Alben – ein immenser Erfolg. Und Loussier gelang es, trotz seiner Experimentierfreude dem Genie Bach den nötigen Respekt zu zollen. Puristen schrien nicht auf. Ein überwältigender Begeisterungssturm kam aus den Konzertsälen der Welt. Sowohl Bach als auch der Jazz erschloss sich neuen Hörerkreisen. Eine Tür zum Verständnis zeitumspannender Musik öffnete sich. Doch warum funktioniert die Fusion von Jazz und Bach so gut?
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Jazz und Barock: näher als vermutet
«Du kannst nicht Jazz spielen, ohne auch Bach zu spielen», sagte der Saxofonist Joshua Redman. Ist Bach die Voraussetzung zur Improvisation? Bei genauem Hinsehen haben die Barockmusik und der Jazz so einige Gemeinsamkeiten.
Bachs stetig fliessende Melodien unterscheiden sich wenig von den wilden, unablässigen Improvisationslinien eines Charlie Parker. Da gibt es beiderseits Akkordbrechungen, Tonleitern und -umspielungen. Im Jazz geschieht dies mit mehr Chromatik. In beiden Stilen existiert ein steter Puls und ein fortschreitendes Bass- und Harmoniemodell: Hier der Generalbass, dort der «Walking Bass» und das Begleiten mit Klavier oder Gitarre. Improvisiert wurde schon im Barockzeitalter: Die Verzierungspraxis, das Verändern der Melodie in der Wiederholung und das freie Präludieren und Fantasieren gehörten zum Handwerk eines jeden Musikers.
So vielfältig wie der Jazz selbst
Eine der frühesten Aufnahmen von verjazztem Bach stammt von den Geigern Eddie South und Stéphane Grappelli. Zusammen mit dem Gitarristen Django Reinhardt spielten sie 1937 die «Interprétation Swing du Premier mouvement du Concerto en ré mineur» auf Schallplatte ein. Dabei verwendeten sie nur das allgemein bekannte Material Bachs und fügten einen eigenen, auf den bestehenden Harmonien basierenden Improvisationsteil hinzu. Ein Konzept, das später die meisten Bachbearbeiter anwenden und das am besten zu funktionieren scheint.
Eine andere, einfachere Lösung fanden ab 1960 die «Swingle Singers» : Gesungener, authentischer Bach, aber ohne Improvisation und mit dezentem Schlagzeug unterlegt.
Bach verjazzen als Lebensaufgabe
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Loussier kombinierte die Musik Bachs mit Bass und Schlagzeug und erweiterte sie mit einer Improvisation über die originale Form und Akkordfolge (siehe Link rechts). Später ging Loussier über zu komplizierteren Arrangements. Danach entstanden von verschiedenen Künstlern Jazzadaptionen, die oft nach dem gleichen Grundprinzip funktionierten: Zur Verwendung kommen die einem breiten Publikum vertrauten Melodien. Selbst komponierte Passagen (ein eigener Improvisationsteil, Zwischenspiele) ergänzen die Neuschöpfung.
Besonders farbige Arrangements für ein Septett gelangen vor einigen Jahren dem katalanischen Pianisten Francesc Capella auf seinem Album «Jazz on Bach». Einen anderen Weg betrat der italienische Pianist Enrico Pieranunzi, der sich im Sinne eines freien Präludierens an barocke Klavierstücke heranmachte. Er verband nahtlos Fremdes mit Eigenem und kam der barocken Improvisationspraxis mit einer modernen Jazzsprache auffällig nahe.
Über verjazzten Bach regt sich niemand mehr auf
Wunderbar aus der Reihe tanzte vor einigen Jahren der amerikanische Pianist Uri Caine mit seinen Goldberg Variations, einem wahren Geniestreich: Er entwarf in Anlehnung an Bach eigene Variationen und schickte diese durch die gesamte Musikgeschichte. Selbst Gospel, Salsa und Techno fehlen nicht.
Doch war Loussiers Beschäftigung mit Bach eine Verschandelung oder eine dem Zeitgeist entsprechende, kreative Weiterentwicklung? Es gab damals nur wenige kritische Stimmen, die Loussiers Arbeit weder als edle Barockmusik, noch als guten Jazz, sondern als billige Unterhaltungsmusik empfanden. Die Akzeptanz überwog. Heute hat sich diese Crossoverpraxis emanzipiert und stösst fast überall auf Begeisterung. Sie widerspiegelt die breite Stilpalette der heutigen Jazz- und Populärmusik.