Bis Ende des 16. Jahrhunderts galt Sex ausserhalb der Ehe als unmoralisch und wurde streng verfolgt. Dies änderte sich zwischen 1650 und 1800, wie Sie am Beispiel von London zeigen. Wie kam es zu dieser Neubewertung?
Faramerz Dabhoiwala: Der wichtigste Punkt ist, dass die Menschen damals begannen, in die Städte zu ziehen, um dort auf völlig neue Weise zusammenzuleben. Dieser Zusammenbruch der sexuellen Disziplinierung vollzog sich zuerst, schnell und vollständig in London. Das ist kein Zufall: Ende des Mittelalters hatte die Stadt erst 40'000 Einwohner gehabt. Um 1800 aber lebten hier bereits mehr als eine Million Menschen. Die Bevölkerungsexplosion machte London zur grössten Stadt der Welt.
Das neue Leben in der Stadt mit seinen vielen Begegnungsmöglichkeiten von Frauen und Männern konnte von den kirchlichen Autoritäten kaum mehr kontrolliert werden. Inwiefern muss man von einem Zerfall der religiösen Ordnung reden?
Eine wesentliche Rolle spielte dabei die englische Reformation. Da wurde klar, dass Christen sehr unterschiedliche Auffassungen von religiöser Wahrheit hatten, dass sie sich dafür bekämpften und ermordeten. Angesichts der Unmöglichkeit, zu benennen, was denn die richtige religiöse Anschauung sei, begann der Gedanke bedeutender zu werden, dass Rechtsgläubigkeit eine Frage des eigenen Gewissens sein könnte und religiöse Toleranz angemessen wäre.
Welche Auswirkungen hatte dies auf die Sexualität?
Nachdem die Menschen einmal zu dieser Auffassung gekommen waren – und England war da Avantgarde – sagten sie sich: Wenn das individuelle Gewissen gut genug ist, um zu entscheiden, welches der richtige Weg in den Himmel ist, dann ist das Gewissen auch gut genug, um zu entscheiden, wie man leben will, wie man in Fragen der Liebe, der Leidenschaft und des Begehrens entscheidet. Die Vorstellung, dass nicht nur die Religion, sondern auch die Sexualmoral Privatsache sei, wurde in breiten Kreisen zunehmend akzeptiert: Menschen sollten das Recht haben, für sich selbst zu entscheiden. Das ist eine der wesentlichen aufklärerischen Ideen.
Diese Idee konnte sich bis heute allerdings nur in der westlichen Welt durchsetzen, wie relevant ist diese Vorstellung?
Ich denke, sie ist sehr wirksam. Das war der Punkt, an dem der moderne westliche Feminismus geboren wurde. Und ich bin vor den Kopf gestossen, wenn ich Berichte über sexuelle Verhaltensweisen in der nicht westlichen Welt lese, zum Beispiel in der arabischen Welt. Da zeigt sich, wie bedeutend die Tatsache ist, dass Frauen in der arabischen Welt kaum eine öffentliche Stimme haben. Das trifft auch auf die westliche Welt vor der Aufklärung zu. Die Teilnahme der Frauen in der Öffentlichkeit ist ein sehr wichtiger Moment in der westlichen Welt. Und solange in andere Kulturen die Leute nicht die Freiheit haben, für sich selbst zu entscheiden, was richtig und falsch ist, sowohl in Bezug auf Sex als auch in Bezug auf Religion, solange können wir nicht von der gleichen Freiheit sprechen.
In Ihrem Buch halten Sie fest, dass die Überwachung und öffentliche Bestrafung von sexuellen Handlungen, die religiös nicht konform waren, ein festes Element der vormodernen Gesellschaft im Westen waren. Würden Sie Länder wie Saudi-Arabien, Iran oder Pakistan vor diesem Hintergrund als vormoderne Gesellschaften bezeichnen?
Wenn ich in anderen Teilen der Welt bin, um über mein Buch zu reden, dann bestürzen mich zwei Dinge: Auf der einen Seite treffe ich dort auf Haltungen gegenüber Sexualität, die wir im Westen vor dem Anbruch der Moderne hatten. Vorstellungen, die darauf beruhen, dass die Gemeinschaft und die Familie die wichtigste Instanzen sind, die sagen, was richtig ist und die diejenigen bestrafen, die sich nicht daran halten. Es sind Vorstellungen, die auf der patriarchalen Idee aufbauen, dass Männer mehr Macht und das Recht haben, die Regeln für jungen Leute und die Regeln für Frauen aufzustellen. Und in diesen Ländern sind es religiöse Vorgaben, die das Verhalten bestimmen.
Auf der anderen Seite sieht man in vielen Ländern eine ungeheure Spannung zwischen den alten Vorgaben und den neuen Denkweisen, vor allem in den grossen Städten im Nahen Osten, in den arabischen Ländern und auf dem indischen Subkontinent. Die alten Ideen prallen dort auf neue Lebensweisen und neue Freiheiten: Frauen und Männer, junge Leute, treffen sich, sie eignen sich Informationen und Ideen über andere sexuelle Verhaltensweisen an. So kann man unmöglich sagen, dass wir es mit einer vormodernen Welt zu tun hätten. Denn die Menschen in diesen Ländern sind informiert, wie man im Westen lebt, sie haben Zugang zum Internet, zu neuen Medien.