Am 26.3.1991 erhält Xavier Koller einen Oscar für seinen Film «Die Reise der Hoffnung». Der Oscar war eine Sensation. Auf den Schweizer hätte keiner gewettet. Haushoher Favorit war «Cyrano der Bergerac» mit Depardieu in der Hauptrolle.
Der hatte schon jede Menge europäische Preise, einen riesen Medienwirbel als Bugwelle vor sich hertreibend und einen Hauptdarsteller, der nicht gerade unauffällig genannt werden kann. Aber es kam anders.
«Reise der Hoffnung» bekam den Oscar. Koller erzählt darin die Geschichte einer türkischen Familie, die illegal in die Schweiz einwandern will. Der Film basiert auf Tatsachen.
1988. Irgendwo im Südosten der Türkei. Einer jener Orte, an dem die Welt endet. Einer jener Orte, in dem es Vieles geben mag, aber wenig Zukunft. Eine Bauersfamilie bekommt Post.
Eine Ansichtskarte aus der Schweiz. Freunde, die ausgewandert sind, die es nicht mehr ausgehalten haben und sich irgendwann entschlossen, den grossen Schritt zu tun. Lange hat man nichts voneinander gehört. Man hat sie schon fast vergessen.
Dann kommt die Karte. Sie schreiben, es gehe gut. Sehr gut. Sie berichten von einem gelobten Land. Sie hätten Arbeit, verdienten Geld. Essen, viel Essen. Eine heile Schweizer Welt strahlt von einer Ansichtskarte ins anatolische Hinterland.
Wir gehen in die Schweiz, ins Paradies
Der Familienvater beschliesst: sie wandern auch aus. Was den Freunden geglückt ist, müssen sie doch auch schaffen. Er beginnt seine Tiere zu verkaufen, den Hof, das Land. Er sammelt Geld im Dorf. Nach einiger Zeit hat er alles verkauft.
Er bricht mit seiner Familie auf. Nicht alle, das geht nicht. Das ist zu teuer, das sind zu viele. Nur einen Sohn und seine Frau nimmt er mit. Sechs Kinder bleiben zurück. Sie reisen nach Izmir. Das haben ihnen Freunde empfohlen. Dort gebe es «sichere Schiffe». Sie gelangen auf ein solches.
Tage später landen sie irgendwo. Man sagt ihnen, das sei Norditalien. Sie reisen weiter nach Mailand. Drei Tage Warten. Dann kommen Männer. Insgesamt zwölf Personen sollen über die Grenze in die Schweiz. Ins Paradies. Der Vater wird hinterher erzählen, sie hätten erst später realisiert, dass es sich um professionelle Schlepper, Kopfgeldjäger gehandelt habe. Die zirkulierten in Norditalien auf der Suche nach illegalen Auswanderern. Ein Wagen mit vier Türken fährt vor. Die kassieren das Geld.
Die Nacht in der Hölle
Die Gruppe mit den zwölf Personen wird weggebracht. Sie gelangen an die Grenze. Sagt man ihnen. Es ist die Nacht auf den 13. Oktober 1988. Die Schlepper sagen, sie seien auf 1500 Meter. Die Grenze sei auf 2500. Ein Pass. Der Splügen. Sie sollten getrennt gehen, um weniger aufzufallen. Der Vater nimmt den Jungen mit, seine Frau geht mit zwei weiteren Frauen. Es wird dunkel. Wind kommt auf. Es wird eiskalt. Sie steigen höher.
Schneegestöber. Das Kind beginnt zu frieren. Der Vater gibt ihm seine Jacke. Sie gehen weiter. Das Kind kann nicht mehr. Er nimmt das Kind auf die Arme und trägt es über den Pass. Auf der anderen Seite angekommen, atmet das Kind nicht mehr.
Der Vater versucht, Autos anzuhalten. Vier fahren vorbei. Beim fünften stellt er sich mitten auf die Strasse. Der Fahrer hält an. Der realisiert sofort, was passiert ist. Er dreht die Heizung auf. Rast ins Spital. Das Kind ist tot.
Erfroren im Paradies
Der Vater bricht zusammen. Die Mutter wird halb wahnsinnig. Beide kommen in Haft. Getrennt voneinander. Der Vater wird verhört. Er und seine Frau sehen sich erst in Zürich wieder – bei der Abschiebung. Der Leichnam des Kindes wird erst später ausgeflogen. Sie begraben ihr Kind. Monate später sagt der Mann, er habe das Kind die ganze Nacht getragen. Die letzten Worte des Kindes: «Papa, ich bin müde. Ich friere. Lass uns wieder nach Hause gehen.»