1993 zwang Steven Spielbergs «Schindlers Liste» Stanley Kubrick dazu, sein weit fortgeschrittenes Holocaust-Projekt «Aryan Papers» zu schubladisieren. Nach dem KZ-Drama des jüngeren Kollegen sah der Meisterregisseur keinen Grund mehr sein Herzensprojekt weiterzuverfolgen.
Gleichzeitig hatte ihm Spielberg auch einen willkommenen Vorwand dafür geliefert, sich von der Fixierung auf den Holocaust zu lösen, den er – je länger er sich damit beschäftigte – mit filmischen Mitteln für nicht bewältigbar hielt. Kubrick war zur Überzeugung gelangt, dass wenn Filme über den Zweiten Weltkrieg, wie es oft geschah, auf die Überlebenden fokussierten, sie dabei den Kern der Sache verfehlten. In Wahrheit war dieser Krieg, der Holocaust, nicht zu überleben.
Erfahrungen im Untergrund
Jean-Pierre Melville (1917–1973), der Schöpfer ikonischer französischer Gangsterfilme, wusste um diese Wahrheit aus eigener Anschauung. Der Spross Elsässer Juden (Geburtsname: Jean-Pierre Grumbach) schloss sich nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen der Resistance an und kämpfte unter dem Decknamen «Melville» aktiv gegen die Nazis.
Diesen Tarnnamen behielt er nach der Befreiung bei und etablierte sich mit Meisterwerken wie «Der zweite Atem» (1966) oder «Der eiskalte Engel» (1967) als Einzelgänger, der einen sehr eigenen, rigorosen Stil abseits von Nouvelle vague und Traditionalismus pflegte. Grundlage für all seine Filme bildeten immer auch jene Erfahrungen, welche er in den Jahren im Untergrund gemacht hatte. Die waren geprägt von Verrat, Trauer und Hoffnungslosigkeit.
Demontierter Heldenmythos
Als Melville 1969 mit «Armee im Schatten» seinen mit Lino Ventura prominent besetzten Resistance-Film in die Kinos brachte, echauffierten sich sowohl die Rechten wie die Linken über die nüchtern distanzierte Alltagsdarstellung des französischen Widerstandes, die sich jede Heroisierung verbat. Der Film kam zu Unzeiten. In der aufgeladenen Atmosphäre unmittelbar nach 1968 hielt man dem Gaulisten Melville von links die Unterschlagung des kommunistischen Anteils am Kampf gegen die Nazis vor. Von rechts wiederum sah man sich bei den Bestrebungen gestört, mit dem Heldenmythos der Resistance die Realität der Kollaboration der Besetzten mit den Besatzern vergessen zu machen.
Diese Kontroverse sorgte für allgemeine Ablehnung. Erst nach der Wiederaufführung Jahrzehnte später wurde «Armee im Schatten» rehabilitiert. Man konstatierte Melville nun mit seiner distanzierten, unpathetischen, ja fast abstrakten Schilderung der Wahrheit des Krieges als Auslöscher jeder menschlichen Regung näher gekommen zu sein, als dies historisierende beziehungsweise heroisierende Darstellungen je leisten könnten.
Film als Nötigung
Ähnliche Erfahrungen machte 16 Jahre später der russische Regisseur Elem Klimov. 1985 kam sein Kriegsfilm «Komm und sieh» in die Kinos. Die Premiere fiel in die Hochzeit des Kalten Krieges, und im Westen qualifizierte man den Film reflexartig als Sowjetpropaganda ab. In seinem Heimatland galt Klimov gleichwohl als unzuverlässiger Regisseur. Zuvor schon hatte er sich mit «Abschied von Matjora» und «Agonie» Kämpfe mit den Zensurbehörden geliefert. Nun beargwöhnte man auch seinen neusten Film, der – entgegen der westlichen Etikettierung – als Propaganda nicht im Geringsten taugte.
Klimov, der, 1933 in Stalingrad geboren, 1942 zusammen mit seiner Mutter nur knapp den Gräueln der Schlacht um nämliche Stadt entrann, hatte mit diesen Erfahrungen einen sehr direkten Bezug zum Weltkriegsgeschehen. Ihm schwebte ein Film vor, der den Zuschauer dazu zwingen würde, das Grauen aus Kinderperspektive mitschauen zu müssen. Die Wirkungsweise von «Komm und sieh» entfaltet sich entsprechend zum Titel des Filmes, welcher sich auf die Offenbarung der Apokalypse bezieht, die zu sehen Gott den Menschen nötigt. Auch Klimovs Film ist eine Nötigung.
Die Wahrheit des Krieges
Radikal und kompromisslos erzählt «Komm und sieh» die Geschichte des Jungen Fljora, der sich zur Zeit der Nazi-Mordbrennerei in der weissrussischen Sowjetrepublik den Partisanen anschliesst. Was für den Teenager zunächst wie ein Abenteuer aussieht, wird, als Fljora aus dem von den Deutschen zerbombten Partisanenlager flieht und nun zu Mutter und Schwestern zurückzukehren versucht, zum Abstieg in die Hölle. Wie der Junge gerät dabei auch das Publikum in einen Schwebezustand und bewegt sich fortan in einem unsicheren Vakuum, permanent bedroht, durch die schreckliche Banalität des Todes zerschmettert zu werden.
Wie vor ihm Melville führt auch Klimov dem Zuschauer vor Augen, wie das Leben sich von den Menschen verabschiedet. Er vermeidet dabei jede Objektivierung. Nichts erfahren wir über konkrete Orte, Fronten. Was immer geschieht ist existenziell auf die Sicht und das Leben des Jungen Florja bezogen, der durch die Ereignisse traumatisiert wird. In diesem Krieg gibt es nichts zu gewinnen, gibt es keine Helden. Die meisten sterben schnell und banal. Enden als nacktes, zerrissenes Fleisch. Diese verstörende Realität erfassbar zu machen lässt Klimov kein cineastisches Mittel aus. Der Zuschauer soll mit allen Sinnen gepackt werden. Fotografie, Ton, Schauspielerei – alles ist dem Zweck untergeordnet, der Wahrheit des Krieges nahezukommen und die heisst: Tod.