Geistergeschichten, Horror, Cyberpunk, Märchenhaftes, Ausserirdisches: Was das NIFFF in den Gründungstagen mit seinem Konzept des «fantastischen Films» vorhatte, das war nichts weniger als eine Kampfansage an den Realismus, dem sich die Schweizer Filmbranche damals vorwiegend verpflichtete.
Es bestand Erklärungsbedarf in den ersten Jahren: Hartnäckig hielt sich das Vorurteil, in Neuenburg würden sich tätowierte Gruftis Zombie-Filme anschauen, bevor sie sich wieder zum Schlafen in ihre Särge legten. Wer vor Ort war, wusste allerdings: Das mit dem vielen Horror, das stimmte nur halb.
Das NIFFF hatte noch einen ganz anderen, viel ambitionierteren Plan.
Rollende Köpfe und Arthouse-Kino
«Wir wollten kein Genre-Festival aufbauen», sagt der ehemalige NIFFF-Leiter Olivier Müller: «Es ging uns um einen Diskurs über die Verzerrung von Realität.» Und auch Anaïs Emery, ebenfalls langjährige Leiterin, pflichtet bei: «Wir verstanden uns nie als ein Themenfestival. Kategorisierungen wiesen wir zurück.»
Der Plan hinter dem NIFFF war so einfach wie genial: Emery und Müller wollten den Fünfer und das Weggli, sie wollten reisserische Genrefilme und schickes Arthouse-Kino am gleichen Anlass. Diese zur Diskussion stehende «Verzerrung von Realität»: Dafür reichte eine bizarre Traumsequenz, eine unerklärliche Wendung oder ein futuristisches Setting.
Das NIFFF-Publikum musste also immer damit rechnen, dass es statt rollende Köpfe Kunst zu sehen bekam.
Vorreiter der fantastischen Kultur
Zum Gründungsakt des NIFFF gehört auch ein Paradox: Das Genrekino war um die Jahrtausendwende nicht in Form, zumindest nicht in Hollywood. Die Studios produzierten in den 90ern in diesem Bereich fast nur noch ironische Slasher, ein ambitioniertes Projekt wie die Matrix-Trilogie war die Ausnahme.
Aber kaum stand das Neuenburger Festival auf den Beinen, ging es los: Mit dem Start von «The Lord of the Rings» (ab 2001) war das Feuer für fantastische Kultur entfacht, und ein umfangreiches Superheldentum aus US-Franchisen begann damit, die sommerlichen Leinwände Jahr für Jahr zu bespielen.
Superhelden aus Asien und Europa
Davon lief kaum etwas am NIFFF, denn mittelgrosse Filmfestivals gehören bei der Auswertung von US-Big-Budget-Produkten prinzipiell nicht zum Geschäftsmodell. Aber das Festival war im Trend. Und vor allem hatte es Antworten parat.
Am NIFFF traten Superhelden aus den Philippinen («Gagamboy») oder Japan («Zeburaman») auf. Epische Fantasy kam aus Russland («Night Watch»), Gruselkino aus Österreich («Hotel»), Teenager-Vampire aus Schweden («Let the Right One In»).
Das waren keine Billig-Alternativen: Man hatte am NIFFF immer das Gefühl, man sei Hollywood voraus. In einigen Fällen bekam man recht – etwa wenn US-Remakes von Werken auftauchten, die man zuerst in Neuenburg gesehen hatte.
Der Oscarpreisträger, der lange vorher am NIFFF war
Ein anderer Bereich, in dem das Festival clever agiert, sind asiatische Genrefilme: Sie haben seit jeher ihre Sonderstellung am NIFFF, gar einen eigenen Wettbewerb.
Bong Joon-ho, Park Chan-wook, Ryoo Seung-wan: Südkorea ging am NIFFF bereits ein und aus, lange bevor die Nation den Globus mit K-Popkultur zu überschwemmen begann und Bong Joon-ho mit «Parasite» den Oscar und die Goldene Palme in Cannes gewann.
Auch mit China hatte das NIFFF in eine glückliche Hand. Es zeigte hochdynamisches Kino, das ansonsten im Westen unsichtbar blieb: So auch viele Thriller aus Hongkong – ein Genre, das in den Jahren nach der Übergabe an China (1997) zur paranoiden Hochform auflief.
Genre-Pioniere als Helden gefeiert
Um grösser werden zu können, holte das NIFFF mit wenig Geld grosse Namen aus der Horror- und Fantasyszene nach Neuenburg: Dario Argento, Schöpfer des italienischen Thrillergenres «Giallo». George A. Romero, der Vater der Zombiefilme, Joe Dante, der drollige Gremlins eine Kleinstadt terrorisieren liess, Monty Python-Mitglied Terry Gilliam, David Cronenberg, der Meister des subtilen Horrors und auch George R. R. Martin war am NIFFF zu Gast, als der Hype um «Game of Thrones» schon im Gang war.
Das Festival spezialisierte sich eine Weile lang auf diese Pioniere des Genres, und das war geschickt: Die älteren Herren hatten meist nicht mehr ganz so volle Terminkalender, genossen aber Kultstatus und wurden in Neuenburg wie Helden empfangen.
Nicht nur Männer
Bis hierhin fielen nur Männernamen – aber das täuscht. Anaïs Emery hat immer möglichst viele Frauen ans Festival geholt: Nur waren (und sind) sie im Genrefilmbereich untervertreten, und das NIFFF bildet diesen Missstand zwangsläufig ab.
Ein Coup diesbezüglich war die Jury 2015: Emery stellte sie ausschliesslich aus Frauen zusammen; Jurypräsidentin war Stunt-Woman und Schauspielerin Zoë Bell – bekannt durch ihren Motorhauben-Ritt in Quentin Tarantinos «Death Proof».
Kommerziell, professionell – aber das Blut fliesst weiter
Die Publikumszahlen stiegen, die Spielstätten, die Anzahl der Filme, die Anzahl der Festivaltage, die Open-Air-Leinwand: Alles wuchs. Das NIFFF wurde kommerzieller, professioneller – auch mit vernetzenden Branchen-Anlässen – aber deswegen nie bequem: Die blutigen Horrorfilme im Programm, die blieben.
Heute muss das (erneuerte) NIFFF-Team nicht mehr dauernd erklären, wofür es steht: Der Schweizer Kulturbetrieb akzeptiert es, wenn dort auf der Leinwand Köpfe rollen. Und die tätowierten Gruftis akzeptieren es, wenn man ihnen einen alten Film von Fredi M. Murer zeigt.