Die verschrobenen Figuren der «Sesamstrasse» muss man einfach mögen. Das gilt vom verfressenen Krümelmonster, das nicht nur «Keeekseee», sondern auch mal das Studioinventar frisst, bis zu Ernie, der Bert, in dem wohl bekanntesten Schlafzimmer Deutschlands, nie schlafen lässt.
Die Titelmelodie mit ihrem «Wer nicht fragt, bleibt dumm» ist der Kindheitssoundtrack zahlreicher Generationen.
Hamburg meets Manhattan
1973 wird die amerikanische Sendung «Sesame Street» übernommen und synchronisiert. In den späten 70ern dann produziert der Norddeutsche Rundfunk (NDR) immer mehr selbst. Die Puppen entstehen aber nach wie vor in den USA.
Für die deutsche Rahmenhandlung lassen sie sich dort von Schwarzwald und Märchen inspirieren und kreieren etwa den Bären Samson. An dessen Seite gehört Lilo Pulver zum Team der ersten Stunde.
Seither hegt und pflegt der NDR das Format. Wer genau hinschaut, erkennt die Hamburger Spuren: Die Kulisse der Strassenszene orientiert sich am Bezirk Eimsbüttel, Szenen spielen etwa im Hamburger Hafen.
Das piefige Chaotenduo
Heute wird die «Sesamstrasse» weltweit in über 150 Ländern für Vorschulkinder mit teils eigenen Figuren ausgestrahlt. Aber kein anderes Land verehre Ernie und Bert so sehr wie Deutschland, glaubt Redaktor Holger Hermesmeyer.
«Ernie und Bert haben schon auch einen deutschen Charakter. Diese Piefigkeit und gleichzeitig das Chaotische und Dagegen-Anlachende. Wesenszüge, in denen sich viele Leute wiederfinden.»
Er lässt die Puppen tanzen
Hinter Ernie steckt seit 2001 selbst ein Mann mit Schalk: Puppenspieler Martin Paas. Er habe sehr grossen Respekt vor der Aufgabe gehabt und hartes Stimmtraining absolviert. «Ich wollte diese Ikone nicht beschädigen.»
Die Arbeit im familiären Team mache grossen Spass. «Die Puppen machen auch viel Quatsch am Set ausserhalb der Dreharbeiten.»
Deutsch und divers
Die Sendung hat sich weiterentwickelt über die Jahrzehnte. Früher ging es mehr um Buchstaben und Zahlen, heute stehen emotionale und soziale Beziehungen im Zentrum. Wie gehe ich etwa mit Angst, Wut und Trauer um? «Wir wollen, dass Kinder sich selbst so positiv wahrnehmen, wie sie sind», erklärt Redaktor Hermesmeyer.
2005 stösst etwa die alleinerziehende Moni zur «Sesamstrassen»-Familie. Und neu ist Elin dabei, ein technikaffines Mädchen im Rollstuhl. Man habe schon länger eine weibliche Figur aufnehmen wollen, «weil wir einen deutlichen Männerüberschuss haben.»
Auch latent aktuelle Themen fliessen ein. «Prima Klima» wird im Herbst ein Klima-Quiz heissen. Inzwischen steht die bunte Puppenschar der «Sesamstrasse» für das vorurteilsfreie Miteinander und stellt ein Vorbild an Diversity dar.
Systemrelevantes Puppentheater
Die «Sesamstrasse» ist enorm beliebt. Als 2003 der Sendeplatz um 18:00 Uhr gestrichen wird, demonstrieren Eltern vor dem NDR-Studio. Vergebens: Die Sendung ist seither frühmorgens zu sehen.
Sowieso schaut die junge Zielgruppe die Sendung immer weniger linear, dafür vermehrt auf Youtube, über die Mediathek oder konsumiert Inhalte über die «Sesamstrassen»-App.
Sicher ist nur: Sollte der NDR die «Sesamstrasse» je zur Debatte stellen, dürfte es wieder Protest geben. Hermesmeyer jedenfalls ist überzeugt, dass das nicht so leicht geht: «Die Sesamstrasse ist too big to fail.»