Viel deutscher als dieses Monstrum kann ein Film nicht sein. 174 Minuten Philosophie und Frühlingserwachen – mit tödlicher Konsequenz. Es gibt hier kein unschuldiges Denken, genauso wenig wie ein unschuldiges Spielen.
Dabei fängt alles sommerlich leicht an, auf der Wiese, vor dem Kornfeld, neben der Tankstelle. Robert und seine Zwillingsschwester Elena liegen hier im Gras, er soll ihr helfen, sich auf das Philosophie-Abitur am Montag vorzubereiten.
Eine verhängnisvolle Wette
Bier und Brentano, Heidegger und das Sein und die Zeit. Elena entlöhnt Robert mit Bier, das sie zwischendurch im Tankstellenshop holt.
Sie beklagt sich ein wenig darüber, dass Robert sein Abi vermasselt habe und sie nun alleine zum Studium weg soll. Und sie löchert ihn über seine Nacht bei ihrer Freundin Cecilia.
Schliesslich wettet sie in ihrer offensichtlichen Eifersucht, dass sie noch dieses Wochenende mit jemandem vögeln werde. Sollte es ihr nicht gelingen, bekommt Robert den VW Golf, den sie zum Abi bekommen soll.
Unterdrückte Geschwisterliebe
Die Geschwister haben ihre Rituale, ihre Zänkereien und ihre Symbiose, die nach Finalisierung schreit. Wenn Robert über den Sinn der Zeit doziert und Elena nach allen Regeln der philosophischen Kunst mal kontert, mal nicht, kommen bald einmal die Erinnerungen hoch an die verbotene Geschwisterliebe in Fredi M. Murers Schweizer Klassiker «Höhenfeuer» von 1985.
Der Film schreit «heiss!», Brüderlein und Schwesterlein geben sich kühl, so lange sie können. Dann muss aber vor allem sie dann doch wieder laut schreien und mit einem Lippenstift spielen.
Sehr lang, sehr philosophisch
Man möchte die zwei ins «Hotel New Hampshire» (1984) schicken, Tony Richardsons Verfilmung des Romans von John Irving. Dort holt Jodie Fosters Frannie ihren sich verzehrenden, von Rob Lowe gespielten Bruder für einen einzigen Tag in ihr Bett, auf dass es dann einmal gut sei.
Dabei ist das philosophische Geplänkel der beiden auf einem anregenden Niveau und meist weit entfernt von seminarähnlichen Verläufen, dafür sprunghaft und verspielt. Aber es ist vor allem viel davon.
Hoffnung und Zeit und Bier
Selbst wenn die Handlungseinfälle immer wieder eine ironische Brechung ergeben, wenn Begriffe wie Hoffnung und Zeit und Bier sich verschränken, wenn Robert praktische Beispiele inszeniert und Elena dabei immer noch einen provokativen Schritt weiter geht: Das Wechselbad zwischen behauptetem Leben und behauptetem Denken strengt an im Kinosaal.
Eine gefangene Heuschrecke in einer Zigarettenschachtel illustriert immer mal wieder die in der Gegenwart zukunfts- und vergangenheitslos existierende Kreatur. Sie versucht einfach, aus der Schachtel rauszukommen.
Genauso wie sie später auf dem Teich keine Sekunde daran denkt, zu ertrinken, als die Geschwister die Schachtel schwimmen lassen. Das Insekt bleibt sitzen bis zum Untergang und schwimmt dann überraschend und unerwartet zu den rettenden Grashalmen.
Das Spiel mit der Heuschrecke
Dass die zwei den eigentlich erwarteten Tod des Tieres in Kauf nehmen, ist unter anderem ein Verweis auf härtere Konsequenzen, die diesem Versuchsdenken entspringen, auch wenn Elena einen Moment in die Gegenwart stürzt und von Robert verlangt: «Hol sie da raus!»
Später wird sie diejenige sein, welche an der Idee des konsequenzlosen Spielens festhält, wenn das schon lange keine empirische Grundlage mehr hat.
Intellektuell wie sexuell eine Provokation
Die Rollenverteilung zwischen den beiden Geschwistern ist zumindest provokativ. Robert ist auf der philosophischen Ebene der Lehrer, obwohl er offenbar sein Abi verbockt hat.
Aber im direkten Austausch ist Elena meist diejenige die provoziert, intellektuell, aber auch sexuell, bis hin zu einer im heutigen aufgeladenen «#metoo»-Umfeld ziemlich provokativen Vergewaltigung des befreundeten Tankstellenwartes durch das Mädchen.
Jugendliche Selbstbezogenheit
Insofern ist der Verweis auf Frank Wedekinds «Frühlings Erwachen» zu Beginn dieses Textes nicht nur assoziativ gemeint, sexuelle Provokation und unterdrücktes Begehren sind auch in diesem Film Energielieferanten.
Allerdings erinnert die zunehmend gewaltbereite Selbstbezogenheit der beiden Geschwister in einem deutschen Film unwillkürlich auch an die Terror-Welle der Siebziger Jahre. Das ist so inszeniert, dass niemand von Zufall reden würde.
Radikalität der Gefühle
«Mein Bruder heisst Robert und ist ein Idiot» von Philip Gröning wird dieser Tage zumindest im Berlinale-Umfeld einige kontroverse Diskussionen auslösen. Gröning hat sich entschieden, gleich auf mehreren Ebenen zu provozieren. Mit Länge, mit Philosophie, mit Sex und Gewalt.
Unbedacht wirkt nichts davon, pubertär schon gar nicht. Dies ist ein sehr erwachsener Film über junge Menschen und ihre junge Radikalität, die mehr von Theorie und Gefühl getrieben ist als von Erfahrung.