Am Rande von Locarno befindet sich das Forum Spazio Cinema. Hier finden während des Festivals Pressekonferenzen und Podiumsdiskussionen statt.
Am Sonntagmorgen bietet sich hier ein ungewöhnliches Bild: Auf der Bühne sitzen sechs Frauen und ein Mann. Normalerweise sieht es hier anders aus: Das Filmfestival Locarno ist in vielen Bereichen eine Männerdomäne.
Es werden kaum Filme von Frauen gezeigt
Nur 4 der 18 Filme, die auf der Piazza Grande gezeigt werden, stammen von Regisseurinnen. Von den 15 Filmen im internationalen Wettbewerb sind 3 von Frauen. Einzig im Nachwuchswettbewerb «Cineasti del presente» herrschen beinahe ausgewogene Verhältnisse: Hier sind 7 von 15 Filmen von Frauen.
Dieses ungleiche Geschlechterverhältnis ist der Grund für das Treffen im Spazio Cinema: Die Festivalleitung unterzeichnet eine Charta, mit der sie sich verpflichtet, für mehr Ausgewogenheit zu sorgen.
Initiiert wurde die Aktion vom Swiss Women’s Audiovisual Network (SWAN). Patin der Charta ist die Schweizer Regisseurin Ursula Meier. «Das ist ein historischer Moment», sagt sie in Locarno.
Im vergangenen Mai hat das Filmfestival Cannes diese Charta bereits unterzeichnet, Locarno ist das zweite grosse Festival, das sich verpflichtet, sich für mehr Gleichberechtigung und Vielfalt einzusetzen.
Das Versprechen
Das Dokument umfasst drei Punkte. Erstens verpflichtet sich das Festival, Daten zu sammeln: Es soll Buch darüber geführt werden, wie viele Filme von Männern und Frauen am Festival eingereicht und gezeigt werden.
Zweitens muss das Festival sichtbar machen, wie hoch der Frauenanteil beim für die Filmauswahl zuständigen Gremium ist. Und drittens muss das Festival einen Zeitplan vorstellen, wie es Geschlechtergleichheit in der Festivalleitung erreichen will.
«Wir wollen Fakten schaffen», sagt Ursula Meier. Die Debatte werde oft sehr emotional geführt. Dem wolle man mit Hilfe der Charta eindeutige Zahlen entgegenhalten.
Keine Frauenquote
Eine Frauenquote für die Filme ist in der Charta nicht vorgesehen – das Dokument soll die Festivalleitung nicht einschränken bei der Filmauswahl.
Die künstlerische Freiheit sei für das Festival zentral, sagt Festivalleiter Marco Solari: «Für uns steht die Qualität der Filme über allem». Dennoch verspricht er, sich um eine erhöhte Sensibilität für das Problem zu bemühen.
Hinter der Charta steht die Hoffnung, dass Gleichberechtigung in den entscheidenden Gremien auch zu einem höheren Anteil von Filmen von Frauen führen soll.
Nicht nur Festivals sind betroffen
Der tiefe Frauenanteil ist kein spezifisches Problem von Filmfestivals. «Das ist nur der Anfang», sagt Laura Kehr, die Präsidentin von SWAN: Gleichberechtigung müsse auch bei der Entwicklung und Produktion angestrebt werden.
Das Festival sei jedoch ein guter Ort, um auf das Problem aufmerksam zu machen: «Wenn sich die Menschen des Problems bewusst werden, können sie viel eher etwas verändern.»
Dass die Charta keine Frauenquote vorschreibt, dürfte es der Festivalleitung erleichtert haben, der Unterschrift zuzustimmen. Denn was die Organisation betrifft, steht das Festival auf den ersten Blick nicht schlecht da: Von den 105 beschäftigten Personen sind immerhin 50 Frauen.
In den leitenden Positionen sind die Männer aber klar in der Mehrzahl. «Was die Institutionen innerhalb des Festivals betrifft, haben wir Nachholbedarf», sagt auch Festivalpräsident Marco Solari.
Wer folgt auf Chatrian?
Hier bietet sich schon bald eine Chance zur Veränderung: Mit dem Abgang von Carlo Chatrian nach Berlin könnte schon bald eine Frau die künstlerische Leitung des Festivals übernehmen.
Chatrian selbst begrüsst die Charta. Unterzeichnet hat er sie trotzdem nicht mehr: «Es wäre ja einfach für mich gewesen, etwas zu unterzeichnen und dann zu verschwinden», sagt er lachend.