«Vo wo chunnd är überhäupt?» fragt im Wettbewerbsfilm «Drii Winter» einer der Bergler ganz zu Beginn. «Vom Flachland, vo Willisäu», weiss ein anderes bärtiges Mitglied der Stammtischrunde. «Vo Willisäu!», nimmt ein Dritter mit einem wissenden Lachen zur Kenntnis, welches die kräftigen Eckzähne des Schnauzträgers aufblitzen lässt.
Schwyzerdüütsch als exotischer Sound im internationalen Festivalzirkus? Normalerweise gibt’s das nur in kleinen Dosen, wie zuletzt im japanischen Cannes-Hit «Drive My Car». Hier, in Michael Kochs wortkargem Alpen-Albtraum, spielt Mundart dagegen die Hauptrolle. Weil sich jeder gesprochene Satz wie ein Brocken anfühlt, der auf Resonanz zu stossen hofft.
Man darf gespannt sein, was das urchige Schweizerdeutsch in der siebenköpfigen Jury auslösen wird. Zumal deren Präsident M. Night Shyamalan seinem Publikum bisher exklusiv englischsprachige Genre-Kost wie «The Sixth Sense» serviert hat.
Herr Koch, Madame Meier und Rebell Schäublin
Neben Michael Kochs zweitem Spielfilm darf eine weitere helvetische Produktion auf den Goldenen Bären hoffen: «La ligne» von Ursula Meier, die in Berlin bereits 2012 für ihre Berg-und-Tal-Fahrt «L’enfant d’en haut» eine silberne Auszeichnung erhalten hat.
In ihrem dritten Drama darf sich eine handgreiflich gewordene Frau nicht mehr dem Haus ihrer Mutter nähern. Die juristisch beorderte Grenze liegt bei 100 Metern. Direkt hinter dieser imaginären Linie beginnt sie ihrer 12-jährigen Schwester Musikunterricht zu geben, um ihre Gewalttat wiedergutzumachen.
Ebenfalls an prominenter Stelle, nämlich in der Reihe «Encounters» – der Sparte für besonders innovatives Kino – läuft «Unrueh» von Cyril Schäublin. Dessen 2018 in Locarno lancierter Erstling «Dene wos guet geit» wurde auf Festivals rund um den Globus gefeiert.
In seiner jüngsten Regiearbeit erkundet der Spross einer Uhrmacherfamilie nicht nur die raffinierten Mechanismen, welche Zeitmesser antreiben. Sondern auch die nicht minder ausgeklügelten, die eine Gesellschaft mit stetem Druck in Schwung halten.
Kleiner, kürzer, schweizerischer
Wieder Schwung aufnehmen möchte in diesem Jahr auch die Berlinale. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Festivalleitung das Programm gestrafft. Statt 340 Filme wie 2020 wurden heuer nur 256 selektioniert. «Verglichen mit damals ist das ein Rückgang von 25 Prozent», rechnet Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek vor.
Im Hauptwettbewerb markieren 18 Filme aus 15 Ländern Präsenz. Die Schweiz ist als führende Koproduzentin zweier Wettbewerbsbeiträge ungewohnt stark vertreten. Das letzte Mal, als zwei helvetische Produktionen um einen Bären konkurrierten, stand die Berliner Mauer noch.
Aus Fassbinders Petra wird Ozons Peter
Als Eröffnungsfilm hat Direktor Carlo Chatrian «Peter von Kant» ausgewählt. Es handelt sich dabei um eine Adaption von Fassbinders Theater- und Kinoklassiker «Die bitteren Tränen der Petra von Kant».
François Ozon aktualisiert in seiner jüngsten Regiearbeit den 70er-Jahre-Meilenstein mit einem Gender-Twist. Statt einer berühmten Modeschöpferin steht nun ein nicht minder erfolgreicher Filmemacher im Zentrum. Aus Petra wird Peter von Kant. Wer weiss, ob das den Kampf der Hauptfigur mit ihren eigenen Dämonen beeinflussen wird …
Apropos Geschlecht: Immerhin sieben Regisseurinnen haben es in den Hauptwettbewerb geschafft. Mehr als auch schon. Von der angestrebten Parität ist die Berlinale aber noch weit entfernt, wie Carlo Chatrian selbstkritisch anmerkt: «Da besteht noch Luft nach oben.»