Nicht wegschauen! Auch wenn die irische Kleinstadt so tut, als ob niemand wüsste, was hinter den Mauern des Nonnen-Klosters vor sich geht. Die Kirche ist mächtig in diesem Irland von 1985, und die barmherzigen Magdalenen-Schwestern nehmen jene unverheiratet schwangeren Mädchen auf, die sonst niemand will.
Bill Furlong liefert mit seinem kleinen Laster Kohle, Gas und Briketts für die Heizungen in der Kälte vor den Weihnachtstagen aus. Als er eine Mutter beobachtet, die ihre heulende, sich verzweifelt wehrende Tochter an der Klosterpforte abliefert, kommen ihm die Tränen. Er denkt an seine eigenen fünf Töchter und an seine Mutter, deren Namen er trägt, weil niemand seinen Vater kannte.
Romanverfilmung mit Star-Cast
Cillian Murphy, den knallharten Bandenchef der «Peaky Blinders»-Serie, mit Tränen in den Augen zu sehen: Das erinnert daran, wie wandelbar der 48-jährige Ire ist. Zusammen mit seinen US-amerikanischen Kollegen Matt Damon und Ben Affleck hat Murphy «Small Things Like These» produziert – nach dem gleichnamigen Roman von Claire Keegan aus dem Jahr 2020.
Keegan, vor allem bekannt für ihre präzisen, kunstvoll gebauten Kurzgeschichten, gibt den Ton vor: Die alltäglichen «kleinen Dinge» türmen sich für den emphatischen, warmherzigen Bill zunehmend hinter den Fassaden der Menschen und der Institutionen auf.
Der belgische Regisseur Tim Mielants hatte mit Murphy die «Peaky Blinders»-Staffel von 2016 realisiert. Er baut den Film «Small Things Like These» ganz auf Cillian Murphys Bill auf. Das Drehbuch stammt von Enda Walsh, der auch an Steve McQueens «Hunger» von 2008 mitgeschrieben hat.
Die Kamera ist fast immer bei Cillian Murphy: Sie zeigt ihn als ruhigen Schaffer, der sich die schweren Kohlensäcke auf die Schultern wirft und seine Angestellten freundlich und umsichtig behandelt und bezahlt. Auch zu Hause mit der Frau und den fünf Töchtern sitzt er stets ruhig und liebevoll im Familientrubel.
Händewaschen als roter Faden
Bill hat ein abendliches Ritual, das der Film beiläufig einführt und steigert: Wenn er nach Hause kommt, füllt er im kleinen Badezimmer das Waschbecken und schrubbt sich sorgfältig und ausgiebig den Kohlenstaub von den Händen – mit Seife und Bürste. Die Armbanduhr legt er dazu ab, den Ehering behält er am Finger.
Das Publikum merkt erst nach einer Weile: Der Film springt hin und wieder zwischen Bills Gegenwart und den Erinnerungen an seine Kindheit hin und her. Das ist verblüffend schlüssig, weil diese Erinnerungen Bills Gegenwart und seine wachsenden Konflikte erklären.
Dass sich ein grosser Konflikt abzuzeichnen beginnt, eines der langjährigsten gesellschaftlichen Verbrechen innerhalb der irischen Gesellschaft, zeigt Bills zunehmend gesteigerte Intensität beim Händewaschen.
Unsere Rolle als Zuschauerinnen und Zuschauer wiederholt sich in einer etwas forcierten Einstellung: Die Kamera sitzt fix über den Kohlesäcken auf Bills gelbem Lastwagen hinter der Fahrerkabine. Wenn Bill ausfährt, fahren wir mit: als Zuladung. Oder als blinde Passagiere, deren Blindheit laufend abnehmen wird.