Paul (Vincent Macaigne) kann nicht aufhören, das Pfännchen zu schrubben, in der die Erdbeeren auf dem Herd verkohlt sind. Derweil echauffiert sich sein Bruder Etienne (Micha Lescot), der in der gleichen Küche manisch seinen Crêpes-Teig rührt. Warum er denn, faucht Etienne Paul an, das verdammte Ding nicht einfach wegschmeisse?
Ein paar Tage zuvor hatten sie schon gestritten, weil Paul sich via Online-Shop täglich neue Dinge ins Lockdown-Paradies im französischen Dorf schicken lässt. Dieses Dauerbestellen überflüssiger Dinge sei doch nur eine Übersprungshandlung, eine Art Rache für die Isolation, ein Akt des Selbstmitleids und überhaupt erbärmlich.
Pandemie im Paradies
Was die beiden Brüder da nach Wochen des isolierten Zusammenlebens im Haus ihrer Kindheit veranstalten, kommt dem Kinopublikum sehr bekannt vor. Die Zeit ohne Ausgang, ohne Läden, Restaurants, Besuche von Freundinnen und Freunden, Konzerte, Kino: Wir haben sie hinter uns und womöglich fast ein bisschen vergessen.
Nun sehen wir, dass einer der bekanntesten französischen Autorenfilmer und sein Bruder, ein prominenter Rockjournalist, diese schwierige Zeit ähnlich erlebt hatten. Kleiner, feiner Unterschied vielleicht: Die beiden Brüder verbrachten sie in ihrem idyllischen Landanwesen, beide mit ihren aktuellen Freundinnen, beide nach einer Scheidung, attraktiver untergebracht als die meisten von uns.
Angst à discrétion
Mit «Hors du temps» – oder auf Deutsch: «aus der Zeit gefallen» präsentiert Olivier Assayas seinen neuesten Film und zieht die Zeit der Coronakrise in der Gestalt des grossartigen Vincent Macaigne gehörig durch den Kakao.
Denn es stellt sich heraus, dass dieser Filmemacher sich nicht nur panisch vor dem Virus fürchtet, wöchentlich mit seiner Therapeutin eine Zoom-Session im Garten abhält und das Ende des Kinos gekommen sieht. Fast genau so gross ist seine Angst vor dem Ende von Isolation und Rückzug.
Paul, der hochgebildete Neurotiker, wirft einen dauertaxierenden Blick auf alles in seiner Umgebung – und vor allem sich selbst.
Ein Quasselfilm, den man liebt oder hasst
«Hors du temps» hat fast so viele Wörter wie Einzelbilder. Wenn die Menschen im Bild nicht reden, dann tut es der Autor auf der Kommentarspur. Hier packt und breitet er seine ganze Kindheit und Familienerinnerungen aus – mit einer französischen Eloquenz, die den literarischen Vorbildern der Grande Nation in nichts nachsteht. «Hors du temps» ist einer jener französischen Quasselfilme, die man entweder liebt oder hasst.
Wer Assayas' Filmografie («Clouds of Sils Maria», «Carlos» oder «Vep») kennt und schätzt, wird sich keine Sekunde langweilen. Aber auch, wer die realen Personen hinter den hier von Schauspielerinnen und Schauspielern verkörperten Figurenkonstellationen noch nicht kennt, wird das eine oder andere Aha-Erlebnis haben.
«Hors du temps» ist Bilanz, Satire, Biografie und eine endlose Quelle für Tratsch und Vermutungen. Wer hätte gewusst, dass Assayas sich mit der Idee beschäftigt, Kirsten Stewart als portugiesische Nonne zu inszenieren? Keine Frage: Diesen Film möchten die Assayas-Fans natürlich sehen.