«The Lost Daughter» ist die Verfilmung des Romans «La figlia oscura» der Bestseller-Autorin Elena Ferrante, die mir ihrer neapolitanischen Saga «Meine geniale Freundin» weltberühmt wurde. Mit der freien Adaption des Romans debütiert Maggie Gyllenhaal im Wettbewerb von Venedig als Regisseurin.
Ein Kind verschwindet
Olivia Colman spielt die 48-jährige Literaturprofessorin Leda Caruso, die sich für ihre Ferien mit vielen Büchern auf eine griechische Insel zurückzieht. Sie mietet sich eine Wohnung und verbringt ihre Tage lesend auf dem Liegestuhl in einer kleinen Bucht und schaut aufs Meer.
Ausser dem Wohnungsverwalter Lyle (Ed Harris) und dem Betreiber der kleinen Strandbar Will (Paul Mescal) gibt sie sich anderen Menschen gegenüber abweisend und verschlossen.
Ihre Einsamkeit wird gestört, als eine griechischstämmige Grossfamilie aus New York die Bucht in Beschlag nimmt. Auf Kontaktversuche reagiert Leda abweisend, gar feindselig.
Doch dann verschwindet ein Mädchen. Leda hilft bei der Suche und findet das Kind. Dessen Mutter Nina (Dakota Johnson) ist überglücklich. Aber das Kind ist nicht zu beruhigen, denn ihre geliebte Puppe bleibt verschwunden.
Zwischen Familie und Karriere
Bald wird klar: Leda hat die Puppe mitgenommen und versteckt sie bei sich. Diese Tat löst bei Leda jedoch schmerzhafte Erinnerungen aus. In Rückblenden wird ihre eigene Geschichte aufgerollt: Die brillante junge Wissenschaftlerin hat zwei kleine Töchter. Sie will und kann ihre Mutterrolle aber nicht ausfüllen, weil sie sich lieber ganz ihrer Karriere hingibt.
Der Film springt nun hin und her zwischen der Story auf der Insel, wo die Geschichte um die versteckte Puppe fast die Dimension eines Psychothrillers annimmt (in dem Inseldorf kennen sich alle, nichts bleibt wirklich geheim) und der Zeit, als die junge Leda (Jessie Buckley) auf einer Vortragsreise nach London ihre Freiheit und den Wissenschaftler Hardy (Peter Sarsgaard) kennenlernt.
Stark trotz Schwächen
In «The Lost Daughter» stellt Maggie Gyllenhaal unbequeme Fragen zur Mutterschaft. Wie ist es, wenn eine Frau ihre Rolle als Mutter nicht ausfüllen will und sich der Karriere widmet? Wie verändert so etwas die familiären Beziehungen? Besonders in den Rückblenden ist dieses Dilemma klug und spürbar inszeniert.
Aber gerade diese Aufteilung des Films in die beiden Teile ist auch der Schwachpunkt des Films: Um den Geistern der Vergangenheit in der Gegenwart ein Gesicht zu geben, wird Ledas Aufenthalt auf der griechischen Insel immer mehr zum Psychothriller. Allerdings bleibt die Familie, die Leda bedrängt und bedroht, seltsam konturlos.
Das ist schade, denn Olivia Colman ist eine grossartige Schauspielerin. Sie hätte nicht so viele äussere Umstände gebraucht, um die innere Zerrissenheit und Verzweiflung ihrer Figur darzustellen.
Dennoch: «The Lost Daughter» ist sehenswert. Maggie Gyllenhaal überzeugt als Regisseurin. Sie versteht es, Stimmung und Atmosphäre zu schaffen, die unter die Haut gehen.