Zwölf Jahre bevor Hollywood mit dem feministischen Roadmovie «Thelma & Louise» zwei Frauen aus den gesellschaftlichen Zwängen ausbrechen liess, hatte Alain Tanner das schon in der Schweiz durchgespielt.
«Messidor» hiess Tanners Film von 1979. Ein Film, in dem die Studentin Jeanne und die Verkäuferin Marie aufbrechen, um die Freiheitsmöglichkeiten der reichen Schweiz zu erkunden – und tödlich scheitern.
In der Schweiz kam «Messidor» – wenig überraschend – nicht so gut an, wie Tanners vorherige Erfolge. Dabei gehört er rückblickend wohl zu seinen radikalsten Visionen.
Leuchtturm des Schweizer Films
Alain Tanner stand und steht für den neuen Schweizer Film, der in den 1960er-Jahren vor allem in der Romandie eine Aufbruchsstimmung verbreitete. Hand in Hand mit dem jungen Westschweizer Fernsehen übernahmen Alain Tanner, Claude Goretta und die anderen Filmemacher des sogenannten «Cinéma copain» (Kumpelkino) die Einflüsse des Neorealismus aus Italien und der Nouvelle vague aus Frankreich. Sie schufen einen persönlichen und gesellschaftskritischen Ton.
Vor allem Tanner verband immer wieder Bitterkeit mit Hoffnung und Kritik an herrschenden Zuständen mit einem Sinn für lustvolle Utopie.
Nirgends eindrücklicher zu sehen als in «Jonas qui aurait 25 ans en l'an deux mille» (Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird). Der Titelheld von Alain Tanners wohl bekanntestem Film stand damals, 1976, für die Zukunft, die ganz anders sein würde.
Zwischen Hoffnung und Aufbruch
Als Alain Tanner das Drehbuch für seinen fünften Film schrieb, zusammen mit dem Schriftsteller John Berger, galt die gesellschaftliche Revolution von 1968 vielen als gescheitert. Alain Tanner ging bereits auf die 50 zu. Und der hatte nicht im Sinn, die Aufbruchsstimmung seiner eigenen Jugend einfach fahren zu lassen.
Der Film «Jonas qui aurait 25 ans en l'an deux mille» war eine Bestandesaufnahme und zugleich die Weiterführung der Hoffnung auf Neuaufbruch. Die Stimmung, die einst den 18-jährigen jungen Genfer «Bourgeois» Alain Tanner erfasst hatte.
Als er in Genf die ersten neorealistischen Filme aus Italien gesehen hatte, sei er 1947 nach Italien gefahren, um zu sehen, was da abging. Ausserdem wollte er einfach weg aus der Enge der Schweiz.
Nichts, ausser Filmemachen
Nachdem er an der Uni Genf brav Wirtschaftswissenschaft studiert hatte, heuerte er in Genua für zwei Jahre als Matrose bei der Handelsmarine an. Aber eigentlich habe er nie etwas anderes gewollt, als Filme zu machen.
1955 zog er nach London und arbeitete für das British Film Institute. In London realisierte er, zusammen mit seinem Westschweizer Freund und Kollegen Claude Goretta, den Kurz-Dokfilm «Nice Time». Das restliche filmische Handwerk lernte er in Frankreich. Zuhause in der Romandie profitierten er und seine Kollegen des sogenannten «Cinema copain» von der Experimentierfreude des jungen Westschweizer Fernsehens, das sie einfach machen liess.
«Charles mort ou vif» – «La Salamandre» – «Le Milieu du monde» : Alain Tanners Filme waren gesellschaftliche Stimmungsbilder: hoffnungsfroh und verzweifelt zugleich. Über Paris und Frankreich wurden sie zu riesen Erfolgen.
Damit wurde Tanner schliesslich zum wichtigsten und lange auch aktivsten kulturpolitischen Vorkämpfer für den neuen Schweizer Film – auch in der Deutschschweiz.