Männer und Frauen aus West-Afrika skandieren mit erhobener Faust: «Siamo tutti liberi: Lavoro, Dignità, Diritti.» («Wir sind alle frei, fordern Arbeit, Würde und Rechte.») Die Menge trägt rot-weisse Banner mit dem Schriftaufzug «Rivolta della Dignità». Unter dem Schriftzug ziert ein Kopf mit Dornenkrone und gestreckten Fäusten das Banner.
Diese «Revolte der Würde» soll in einer Filmszene den Einzug von Jesus in Jerusalem eröffnen. Gedreht wird aber nicht in der heiligen Stadt, sondern im süditalienischen Matera, der Kulturhauptstadt Europas 2019.
Einst Pasolini und Gibson, jetzt Rau
Regie führt Milo Rau, mittlerweile ein Star in der deutschsprachigen Theaterszene. Für den 42-jährigen Sankt Galler ist Matera aber nicht Kulisse für einen beliebigen Bibelfilm. Er steigt in grosse Fussstapfen.
Nach Pier Paolo Pasolinis «Das erste Evangelium – Matthäus» (1964) und Mel Gibson in «Die Passion Christi» (2004) wagt er sich an diesem historischen Filmset an eine Neuinterpretation.
Ein politisches Manifest
Milo Rau entscheidet sich für ein politisches Manifest und knüpft an die Bergpredigt im Matthäus-Evangelium an. Dort steht: «Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz aufzugeben, sondern um zu erfüllen.» (Mt 5,17)
«Was Jesus zu den Priestern sagt, fordern auch wir heute», sagt Rau. Der Regisseur fordert Menschenrechte, das Recht auf Aufenthalt, auf Wohnung, Arbeit und eine Identität.
Alles stehe in der italienischen Verfassung, würde aber nicht umgesetzt. «Deshalb haben wir in Italien 500’000 rechtlose Migranten, die unter anderem in der Landwirtschaft ausgenutzt werden.»
Jesus, der Aktivist
Milo Rau hat für seinen Jesus und seine Jünger Tagelöhner ausgesucht. Für zwei Euro die Stunde pflücken sie im Frühherbst Tomaten und im Winter reife Orangen. Es sind moderne Arbeitssklaven. Unter Dumpinglöhnen füllen sie die Regale auch von Schweizer Supermärkten mit billigen Tomaten und Südfrüchten.
Der gebürtige Kameruner Avan Sagnet übernimmt die Rolle des Jesus. Er kämpfte bereits vor acht Jahren in einer ersten Revolte der Tagelöhner gegen die unwürdigen Arbeitsbedingungen an: «Die Männer arbeiten 12 bis 14 Stunden pro Tag für 25 Euro. Das ist eine Schande für Italien und ganz Europa!»
Die modernen Arbeitssklaven
«Die Revolte der Würde» spielt auch in den Barackensiedlungen dieser Tagelöhner. Gedreht wurde rund um die Tomatenplantagen, teilweise unter prekären und gefährlichen Umständen. Denn die Agrarproduzenten lassen sich nicht gerne mit ihren modernen Arbeitssklaven filmen.
Am Ende des Drehtages in Matera kommt ein Traktor mit Anhänger auf den Domplatz. Männer werfen frische rote Tomaten in die Menge. Jesus und seine Jünger zertreten sie mit blossen Füssen.
Die Ware, gepflückt gegen Hungerlöhne, wird nicht in europäischen Supermärkten landen. Für Milo Rau ist es auch ein Film über uns und unsere Konsumgewohnheiten: «Auch ich kaufe die billigen Tomaten in der Schweiz, in Deutschland. Das ist eine Kette, die wir hier durchbrechen wollen.»
2020 soll «Das Neue Evangelium» ins Kino kommen. Bis dahin wird noch an weiteren Schauplätzen in Rom und Palermo gedreht.