Charlie Chaplin, den Tramp mit Melone und Stock, kennt fast jeder. Und doch ist noch nicht alles über diesen Giganten der Filmgeschichte erzählt worden. Dass Chaplin in seinen letzten Lebensjahren in Interviews von Ideen für einen Film namens «The Freak» gesprochen hatte, war zwar bereits bekannt. Aber niemand wusste, wie weit das 1967 begonnene Projekt gediehen war.
Das kam erst 2016 ans Tageslicht, als das Archiv des früheren Produzenten Jerry Epstein der Cineteca di Bologna übergeben wurde. Das Filminstitut verwaltet seit Jahren das Archiv von Charlie Chaplin und hat auch dessen Filme restauriert.
Das Drehbuch stand schon
«Es war eine grosse Überraschung. Nicht einmal die Familie wusste von Epsteins Archiv», sagt Cécilia Cenciarelli von der Cineteca di Bologna. Sie ist Kuratorin der neuen Ausstellung über den Film im Ausstellungshaus «Chaplin’s World» in Corsier-sur-Vevey.
Anhand von Skizzen, hand- oder maschinengeschriebenen Notizen, dem fertigen Drehbuch und zahlreichen Fotos können sich die Besucherinnen und Besucher auf eine Spurensuche begeben.
Parlamentsstreit um die Vogelfrau
In «The Freak» fällt Sarapha, eine Frau mit Flügeln, auf das Hausdach eines Professors in Chile. Sie wird nach London gebracht und zur Schau gestellt. Doch sie flieht, will nach Südamerika zurückkehren. Während der Überquerung des Atlantiks stürzt sie allerdings ins Meer und stirbt.
Die Filmhandlung gleicht einer Fabel oder einer Erzählung aus der griechischen Mythologie. Es ist aber auch die Geschichte einer Aussenseiterin voller Unschuld, die von den Menschen hintergangen wird. «Chaplin hat die Aussenseiter-Figur immer wieder in seinem Werk thematisiert», erklärt Cenciarelli.
Es gibt aber auch komische Szenen in diesem Film. So wird im britischen Parlament darüber debattiert, ob Sarapha nun als Einwanderin ohne Pass oder als Vogel behandelt werden soll. Für die Rolle der Sarapha war die damals 16-jährige Victoria Chaplin vorgesehen, eine Tochter von Charlie Chaplin und seiner letzten Ehefrau Oona O’Neill.
Rückkehr zu den Wurzeln
Das Drehbuch war fertig, Chaplin liess sich sogar in den Shepperton Studios in London Spezialeffekte vorführen, um zu prüfen, wie die Szenen der fliegenden Sarapha über seiner Heimatstadt London umzusetzen wären.
Für sich selbst sah er die Rolle eines alten Trinkers vor. Eine ähnliche Rolle hatte er bereits zu Beginn seiner Laufbahn bei Musicals in London gespielt. Auch wegen dieser Rückkehr zu seinen Anfängen wäre «The Freak» das künstlerische Testament von Charlie Chaplin geworden.
Doch schlussendlich wurde keine einzige Szene verfilmt. Dabei hatte sich Chaplin nach dem Misserfolg des Films «Die Gräfin von Hongkong» (1967) eigentlich rehabilitieren wollen.
«Er wird diesen Film nicht überleben»
Zum einen fand der Filmemacher Jerome «Jerry» Epstein kein Studio, das den Film produzieren wollte. Zum anderen hatte Oona Chaplin Bedenken: Ihr Mann hatte sich beim Dreh des letzten Films den Knöchel gebrochen und war nicht bei bester Gesundheit.
«Es gibt keinen Film», soll sie laut den Memoiren von Jerry Epstein zu diesem gesagt haben. «Ich muss die Entscheidung treffen. Er wird diesen Film nicht überleben.»
Der über 80-jährige Chaplin wurde darüber im Unklaren gelassen. Er arbeitete bis zu seinem Tod 1977 am Projekt weiter. Zwar wurde dieses Werk nie realisiert. Seine Geschichte ist dafür umso filmreifer.