Die grosse Jury des Filmfestivals von Cannes präsidieren zu dürfen, das ist so etwas wie eine cineastische Erhebung in den Adelsstand. Gleichzeitig profitiert immer auch das Festival von den klingenden Namen in der Jury. Und natürlich ranken sich viele medial genüsslich perpetuierte Gerüchte um die diversen Juries.
Von Diktaten und Einflussnahmen seitens der Festivalleitung ist die Rede, von vorab versprochenen Palmen, von fürstlichen Honoraren und königlicher Unterbringung. Das meiste ist Mumpitz – aber alles davon ist dem leicht entrückten Bild einer schwebenden, gottähnlichen Kino-Instanz zuträglich.
Präferenzen und Phobien
Zur medialen Spekulation über mögliche Palmen-Anwärter gehören immer auch die Vermutungen über Präferenzen und Phobien der jeweiligen Jury-Präsidenten. Den Amerikanern wird unterstellt, sie würden bestimmt Hollywood bevorzugen. Und bei den Franzosen gilt es fast schon als ausgemacht, dass die Amerikaner gerade keine Chance haben. Tatsächlich trifft eher das Gegenteil zu.
Schaut man sich die letzten zehn Jahre an, kann man zum Schluss kommen, dass sich sämtliche Jurypräsidentinnen und -präsidenten bemüht haben, eben gerade nicht ihre Landsleute und Freunde zu berücksichtigen.
Unter Verdacht
Natürlich lassen sich immer auch andere Verdachtsmomente breitschlagen – wenn man denn will. So hatte Isabelle Huppert, deren Jury Michael Haneke 2009 die Goldene Palme zugesprochen hatte, zuvor schon mehrere Filme mit dem Österreicher gedreht. Aber sie hat mit so vielen Meisterinnen und Meistern gearbeitet, dass sie wohl niemanden hätte auszeichnen können, ohne direkte oder indirekte Beziehung unterstellt zu bekommen.
Und bei Quentin Tarantino könnte man behaupten, er habe mit Michael Moore einen Landsmann ausgezeichnet. Aber damit hat er sich in den USA kaum Freunde geschaffen. Wenn man gifteln wollte, dann müsste man behaupten, er habe mit dem Dokumentarfilmer den einzigen Kollegen ausgezeichnet, der ihm sicher nie Konkurrenz machen wird.
Bloss Robert De Niro mit seiner Palme für den grauslich verschwurbelten Terrence-Malick-Film «The Tree of Life» tanzt aus der Reihe der gegen die Erwartungen vergebenen Ehrungen. Aber diese Wahl passt wiederum zu dem persönlich seltsam konturlosen Schauspieler, der nur dann Form annimmt, wenn er in einer Rolle steckt. Und diesmal war die Rolle eben Jurypräsident in Cannes – die Rolle eines Mannes, der Kunst erkennt, wenn sie sich aufspielt.
Dieses Jahr endlich wieder eine Frau?
Wird es Jane Campion (Goldene Palme 1993 für «Das Piano») dieses Jahr schaffen, endlich wieder eine Frau auszuzeichnen? Sich selber vom Podest der einzigen echten Regie-Palmenträgerin zu stossen? Immerhin ist die Jury diesmal mit fünf Frauen gegen vier Männer auch mehrheitlich weiblich.
Allerdings wird es nicht so einfach sein, eine Preisträgerin zu küren. Die Auswahl mit zwei Frauen im offiziellen Wettbewerb ist noch immer klein. Die Japanerin Naomi Kawase mit «Futatsume no mado» («Still the Water») wäre eigentlich fällig, sie ist schon dreimal leer ausgegangen.
Die Italienerin Alice Rohrwacher ist mit «Le meraviglie» («Les merveilles») zwar noch ein Neuling im Wettbewerb – aber ihr Film müsste angesichts der grossen etablierten männlichen Konkurrenz schon extrem stark sein, um weder sie noch Jurypräsidentin Jane Campion dem Verdacht einer genderpolitischen Entscheidung auszusetzen.
Immerhin kann Jane Campion nun als Neuseeländerin getrost sowohl US-Amerikaner, Kanadier, Belgier, Briten oder gar Franzosen auszeichnen. Nur bei Japanerinnen oder Italienerinnen muss sie Vorsicht walten lassen.