Zumindest in der Deutschschweiz stand der ruhige und bescheidene Claude Goretta immer ein wenig im Schatten seines deutlich flamboyanteren Kollegen und Freund Alain Tanner.
Und doch bildeten die beiden zusammen mit dem schon 1991 verstorbenen Filmpoeten Michel Soutter jenes Dreigestirn, das ab Mitte der 1960er-Jahre den neuen Schweizer Film über Erfolge in Frankreich in die Welt hinaus trug.
Es begann im Sprachaufenthalt
Dabei waren sie es zunächst selbst, die wegwollten. Alain Tanner ging nach London, an das British Film Institute. Der Jurist Claude Goretta folgte dem Freund aus dem Studenten-Filmclub im Jahr 1957, um sein Englisch aufzupolieren.
Aber angesichts der Aufbruchstimmung des «New British Cinema» steigerte sich das ohnehin schon vorhandene Filmfieber der jungen Schweizer.
Zusammen mit Gorettas Frau Malou filmten sie rund um den Picadilly Circus das Nachtleben und seine Protagonisten. Der 20-minütige Dokumentarfilm «Nice Time» gewann einen Preis am Filmfestival von Venedig.
Zuerst Dok-Filme
Dass die enthusiastischen Jungfilmer dann in Genf schnell Boden unter die Füsse bekamen, lag nicht zuletzt an Claude Gorettas Offenheit für alle Möglichkeiten.
Der zunächst dokumentarische Aufbruch in die sozialen Themen kam auch dem jungen Fernsehen zupass. Geschichten aus dem Leben, echte Menschen, soziale Verantwortung und ein unverstellter Blick: Das war das Rezept der jungen Westschweizer Fernsehredaktion.
Claude Goretta war bald einer von denen, der die Themen und die Menschen auf den Bildschirm zu bringen verstand.
Goretta, Tanner, Soutter und ihre Mitstreiter profitierten von den Mitteln, der Technik und der Experimentierfreude des Fernsehens.
Stiller Beobachter
Gorettas «Le fou» von 1970 zeigte einen Menschen, der aus der Gesellschaft fällt, sich zurückzieht.
Aber mit «La dentellière» (Die Spitzenklöpplerin) und ihrer Darstellerin Isabelle Huppert gelang Claude Goretta 1977 eines seiner bis heute nachklingenden Kino-Meisterwerke.
Claude Goretta bewegte sich in aller Bescheidenheit immer weiter zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, zwischen Kino und Fernsehen. Den Kern all seiner Arbeiten bilden Menschen, denen die Kamera nahekommt, sie still beobachtet, und nie urteilt.
Ehre, wem Ehre gebührt
Empathie statt Pathos, genauer Blick statt Programm und Parolen: Das waren seine Stärken.
Dank dieser Haltung hat er es wohl auch besser und leichter geschafft, alt zu werden, leichter etwa als sein Freund Alain Tanner, der sich mit einer gewissen Verbitterung zurückgezogen hat.
Claude Goretta nahm seinen Schweizer Ehrenfilmpreis 2010 im Rollstuhl entgegen, die Parkinson-Krankheit machte ihm seine letzten Jahre nicht leichter.
Aber seinen Humor und sein Interesse an Menschen habe er nie verloren, berichteten jene, die ihm in den letzten Jahren noch begegnet sind.
Am Mittwochnachmittag sei der 89-Jährige friedlich eingeschlafen, sagen seine Angehörigen. Claude Goretta hinterlässt über 50 Filme und unzählige Fernsehzeugnisse.
Sein Tod wird weit über die Schweizer Grenzen hinaus viele Erinnerungen wecken, manches Lächeln, auch bei jenen Darstellerinnen und Darstellern wie Isabelle Huppert, Gérard Depardieu oder Nathalie Baye, die nicht zuletzt mit und dank seinen Filmen gross geworden sind.
Sendung: Radio SRF 4 News, Nachrichten, 21.2.2019, 11:30 Uhr.