Mit dieser Familie stimmt etwas nicht. Während Mutter Lena mit den Kindern fröhlich im Wohnzimmer spielt, nähert sich dem Haus unheilvoll ein Mann, dessen Gesicht wir nicht zu sehen bekommen. Die Haustür, hinter der die Mutter voller Angst und die Kinder voller Hoffnung auf den Mann warten, den sie «Papa» nennen, wird von aussen entriegelt. Mutter, Tochter und Sohn reihen sich auf, die Mutter vor Furcht zitternd.
Die Miniserie «Liebes Kind» feiert auf Netflix seit ihrem Start am 7. September, laut Erhebungen des Streamingdienstes, international Erfolge und avancierte auch in der Schweiz zur Nummer eins. Die deutsche Serie verbreitet fast fünf Stunden lang Spannung.
Gefangenschafts-Szenen und Plot-Twists
Ein Mann beraubt seine Familie der Freiheit. Bei Nichteinhaltung seines strengen Regimes, wie feste Uhrzeiten für Toilettengänge, Nahrungsaufnahme, Schlafenszeiten, straft er – vor allem die Mutter. In Rückblenden wird die beklemmende Welt der Gefangenen sichtbar.
Eine zweite Zeitebene erzählt, wie Mutter Lena und Tochter Hannah die Flucht gelingt – bereits in der ersten Folge. Die Zuschauer begleiten die Opfer bei ihren ersten Schritten in die Freiheit.
Während die Polizei mit Hochdruck den in Gefangenschaft zurückgelassenen Bruder sowie den Täter zu finden versucht, machen Lena und Hannah immer weniger den Eindruck, als verfolgten sie die Ziele der Ermittler. Auch die zunächst klaren Verwandtschaftsverhältnisse entpuppen sich als ungeklärt. Die geflohene Mutter scheint nicht die Lena zu sein, nach der seit 13 Jahren gesucht wird.
Vom Fall Kampusch inspiriert
Soweit der Plot – doch warum ist die Serie so erfolgreich? Ein möglicher Grund ist die Vorlage: der gleichnamige Roman, mit dem die heute 42-jährige Romy Hausmann 2019 zum Krimi-Shooting-Star avancierte. Ein Bestseller allein reicht aber kaum zum Erfolg.
Vielmehr spielt Hausmanns Inspiration eine entscheidende Rolle. Der deutschen Schriftstellerin diente nach eigener Aussage die wahre Geschichte um Natascha Kampusch als Vorlage. Die Österreicherin wurde 1998 im Alter von zehn Jahren entführt und über acht Jahre gefangen gehalten.
Wahre Begebenheiten befriedigen unseren Voyeurismus. Dem wird durch Rückblenden in den sechs Folgen ausreichend Rechnung getragen.
Wer ist Täter, wer Opfer?
Weil den Opfern bereits in der ersten Folge die Flucht gelingt, können wir uns regelmässig vom Gänsehautzustand erholen. Zusätzliche Spannung wird dennoch generiert, indem vorsorglich allen Figuren eine möglichst hohe emotionale Ambivalenz angedichtet wird.
So geraten Begriffe wie Freiheit, Angst, Fürsorge, Täter und Opfer ins Wanken. Tochter Hannah beispielsweise wirkt in vielen Szenen unberechenbar. Sie scheint nicht aus dieser Welt. Etwas Dämonisches haftet ihr an, was den Nervenkitzel erhöht.
Ein universeller Psychothriller
Die Macher Isabel Kleefeld und Julian Pörksen siedeln das Geschehen im Raum Aachen an. Doch im Grunde spielt das keine Rolle. Es gibt weder arm noch reich, keine sozial-gesellschaftliche Agenda und auch keine klimatischen oder geopolitischen Anliegen.
In diesem Psychothriller hadert ein nicht weiter definierter globaler Mittelstand mit den eigenen Abgründen. Darin können wir uns alle spiegeln: Jeden und jede kann der Schrecken heimsuchen, jederzeit.