Es ist ein entsetzlicher Fund. Im Morgengrauen des 5. Oktober 1994 entdecken Polizisten der Kantonspolizei Freiburg auf einem Bauernhof im Weiler Cheiry 23 Tote: Sternförmig angeordnet, mit grauen Plastiksäcken über den Köpfen und in weisse Gewänder gehüllt.
Fast gleichzeitig melden Feuerwehrleute aus dem Wallis, sie hätten in abgebrannten Chalets in Granges-sur-Salvan weitere 25 Leichen entdeckt.
Bald wird klar: Die beiden Ereignisse stehen in einem Zusammenhang. Die Toten sind Mitglieder einer Sekte, die sich «Ordre du Temple solaire» (auf Deutsch: Sonnentempler) nennt. Die Funde machen weltweit Schlagzeilen.
Es fing harmlos an
Die Untersuchenden gehen zunächst von einem Massensuizid aus. Schliesslich wurde vor Ort ein Abschiedsbrief mit den Worten «Wir verlassen diese Erde ohne Bedauern» gefunden. Ausserdem erhielten Medien und Personen des öffentlichen Lebens ein Schreiben mit den wichtigsten Glaubenssätzen der Sonnentempler.
Doch bald stellt sich heraus, dass die meisten Opfer erst mit diversen Betäubungsmitteln sediert und später erschossen oder erstickt wurden.
Dieser Teil der Geschichte sei mehr oder weniger bekannt, erzählt Regisseur Pierre Morath, der zusammen mit Éric Lemasson die TV-Serie «Die Bruderschaft – die Geheimnisse der Sonnentempler» realisierte. Was jedoch weniger bekannt sei: Die Geschichte begann relativ harmlos. Es sei beiden Filmemachern wichtig gewesen, das zu zeigen.
Überlebender spricht erstmals
«Mitte der 1970er-Jahre trafen sich ein paar Leute in der Nähe von Genf, die sich für kollektive Landwirtschaft und alternative Heilmethoden interessierten, für ein menschlicheres Zusammenleben», erklärt der Regisseur.
Michel Tabachnik bestätigt das: «Ich liebte diese Menschen, und sie liebten einander. Sie wollten miteinander leben, ihr Essen teilen, ihr Geld teilen. Manche verdienten 5000 Franken, andere 100. Alles wurde auf den Tisch gelegt und brüderlich geteilt.»
Tabachnik ist Komponist und Dirigent. Er war Gründungsmitglied der Stiftung Golden Way, aus der später der Ordre du Temple solaire hervorging. Als einziges Mitglied der Sonnentempler stand er je vor Gericht. Bis heute weist er jegliche Schuld am Tod der Mitglieder von sich. In der TV-Serie spricht er zum ersten Mal öffentlich.
Die Gemeinschaft war gern gesehen in den Medien
Die Stiftung, deren Mitglieder sich in Saconnex-d’Arve in einer Villa mit einem grossen Garten trafen, war offen für alle. «Ich lud den Avantgarde-Komponisten Iannis Xenakis ein und liess den Pianisten Alexis Weissenberg kommen», so Tabachnik.
Auch der Astrophysiker Hubert Reeves oder der Stadtpräsident von Genf hätten die Villa besucht. «Das Westschweizer Fernsehen produzierte eine ganze Sendung bei uns. Gast war unter anderem der bekannte Chansonnier Michel Jonasz.»
Die meisten Anhängerinnen und Anhänger der Sonnentempler waren keine verblendeten Spinner, sondern normale Menschen.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe der Gemeinschaft nicht nur eine Sendung gewidmet, erzählt Regisseur Pierre Morath im Gespräch mit SRF, sondern mehrere: «Die letzte wurde 1992 für Radio Suisse Romande aufgezeichnet. Dort liess man den Chef beziehungsweise seinen Stellvertreter eine Stunde lang reden, unwidersprochen. Das war zwei Jahre vor den grauenhaften Morden.»
Der Chef war Joseph Di Mambro, der Grossmeister und Sektenführer. Er zog im Hintergrund die Fäden und liess stets die Nummer 2 Luc Jouret auftreten. «Jouret sah besser aus, war Mediziner, hatte Charisma und konnte reden», so Georg Otto Schmid von Relinfo, der evangelischen Informationsstelle für Kirchen, Sekten und Religionen.
Die beiden kontrollierten und koordinierten ein Geflecht diverser Geheimbünde und Organisationen, die eine Vielzahl von Anhängerinnen und Anhängern in Frankreich, Québec, Belgien und der Schweiz hatten.
Ein vermeintlich leichteres Leben
Anfangs waren sie sehr erfolgreich, wie Regisseur Morath erzählt: «Jeder in Genf hat mitgemacht, insbesondere Leute aus Carouge. Nach der Filmpremiere habe ich Dutzende Anrufe erhalten von Leuten, die mir sagten: Auf dem Foto dort hinten in der Ecke sieht man meinen Nachbarn, und hier ist der Jurist soundso und der Banker soundso. Alle haben mitgemacht».
«Mir war wichtig zu zeigen, dass die meisten Anhängerinnen und Anhänger der Sonnentempler keine verblendeten Spinner, sondern sogenannte normale Menschen waren», betont Morath mehrmals im Gespräch.
Sektenexperte Georg Schmid erstaunt das nicht. Viele Leute seien bereit, sich auf Erzählungen einzulassen, die ihnen das Leben vermeintlich erleichterten, wenn sie sich nur richtig verhalten würden. «Damals waren die Sonnentempler im Schwange, vorher Scientology und Hare Krishna, danach Sai Baba und Buddhismus. Heute sind es eher politisch-weltanschauliche Organisationen wie Urig oder Graswurzle, die eine parallele Gesellschaft aufbauen wollen.»
Warten auf den Messias
Gefährlich werde es immer dann, so Schmid weiter, wenn die prophezeite Zukunft oder die Apokalypse nicht einträfen, beziehungsweise der Messias auf sich warten liesse. «Dann geraten die Sektenführer unter Druck, die Menschen begehren auf oder wollen ihr Geld zurück, so wie es bei den Sonnentemplern der Fall war.»
Wie viele von den 48 Menschen, die in Freiburg und im Wallis aufgefunden wurden, Suizid begingen, dazu gezwungen wurden oder umgebracht wurden, konnte nie festgestellt werden. Deshalb schloss die Untersuchung mit der Feststellung, dass es sich um einen kollektiven Selbstmord handelte, der von Jo Di Mambro und Luc Jouret vorangetrieben wurde. Beide Sektenführer befanden sich unter den Toten.
Doch nicht alle, die getötet werden sollten, kamen auch ums Leben. Einer, der davonkam, ist Thierry Huguenin. Er war am Tag zuvor in Salvan, weil er sein Geld zurückfordern wollte, reiste dann aber wieder ab.
In der TV-Serie kommt Huguenin ausführlich zu Wort. Ebenso Michel Tabachnik, der zum Zeitpunkt der Massaker in Dänemark ein Konzert gab und der deshalb als Urheber oder Beteiligter an den Morden nicht infrage kam.
Billiger Betrug
Aus diesen und einer Vielzahl anderer Interviews, welche die Filmemacher in den letzten Jahren in Frankreich, der Schweiz und in Kanada führen konnten, haben sie nun eine spannende, erschreckende und sehenswerte TV-Serie montiert. Dafür, so fügt Pierre Morath an, konnten sie das von den Behörden freigegebene Videomaterial benutzen. Dieses konnte 1994 an den Tatorten sichergestellt werden, weil der geplante Selbstzerstörungsmechanismus nicht reibungslos funktioniert hatte.
Dieser plumpe Beschiss wäre heute nicht mehr möglich.
Dank dieser Kassetten erhielten die Untersuchungsbehörden – und jetzt auch die Zuschauenden – Einblick in die Welt der Sonnentempler. In Bezug auf die Filmaufnahmen meint Georg Schmid: Die Art und Weise, wie Di Mambro und sein innerer Kreis die Seelen der Leute umgarnte, würde heute nicht mehr funktionieren. «Dieser plumpe Beschiss mit den billigen Spezialeffekten und die wilden Behauptungen von angeblichen Meistern, die in unterirdischen Bunkern in Zürich leben – das wäre heute nicht mehr möglich.»
Warnung vor Evangelikalen
Die Gefahr, die von gewissen Gruppierungen ausgehe, sei jedoch nicht kleiner geworden, meint Schmid weiter. Er verweist auf die aus Südkorea stammende Sekte Shincheonji, deren Mitglieder in der Schweiz sehr erfolgreich junge Leute mit christlichem Hintergrund anlockten.
Da kommt etwas auf uns zu.
Pierre Morath macht sich vor allem Sorgen wegen des rasant wachsenden Einflusses evangelikaler Christen und deren Weltbild auf die Politik in den USA, Brasilien und in weiten Teilen Afrikas.
«Was in Afrika passiert, interessiert hierzulande niemanden, aber was in den USA und Brasilien passiert, das macht mir wirklich Sorgen. Da kommt etwas auf uns zu, dessen Ausmass wir bisher nicht verstanden haben», sagt Morath.