15. Juni 2018, 12:06 Uhr MEZ. In einer schmuddeligen Zürcher Studentenbude quält sich Doni aus dem Bett. Er hat die Nacht zuvor mit seinen Freunden durchgefeiert. Heute will er einen neuen Job suchen.
Derweil ist im tschechischen Pardubice die Musikstudentin Jana schon seit Stunden auf den Beinen: Beim Mittagessen studiert sie Partituren. Zur gleichen Zeit in Breslau schaffen es die polnischen Frauenrechtsaktivistinnen Natalia und Martha gerade noch rechtzeitig zum Zahnarzttermin.
Menschen aus allen sozialen Schichten
Szenen aus «24h Europe», Stunde sieben. 17 Stunden folgen noch. Einen ganzen Tag lang dauert dieser aussergewöhnliche Dokumentarfilm-Marathon, der in Echtzeit über 60 Menschen 24 Stunden lang in ihrem Alltag filmt. Alle zur selben Zeit, von 6 Uhr morgens bis um 6 Uhr am Folgetag, überall in Europa.
Die Kamera nimmt uns mit in europäische Grossstädte, in Dörfer und in die abgeschiedene Wildnis. Zu Fabrikarbeitern, Verkäuferinnen, Start-up-Gründern, Influencerinnen und Aktivisten.
Wir folgen Menschen aus allen sozialen Schichten, Ethnien und Religionen dabei, wie sie frühstücken, zur Arbeit gehen, Kinder grossziehen, sich über die Zukunft sorgen. Unmittelbar und ungeschminkt.
Träume und Realitäten von Millennials
«24h Europe» ist die soziale Topographie eines Kontinents in seiner ganzen Diversität. Einzige Einschränkung: Keiner der Protagonisten ist älter als 30 Jahre. «The Next Generation» heisst denn auch der Untertitel des Films: ein Blick auf Europas Zukunft.
Schnell stellt man allerdings fest: Besonders viele Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den jungen Protagonisten nicht. Der bunte Reigen an Lebensrealitäten, der uns auf dem Bildschirm präsentiert wird, wirkt in seiner Vielfalt willkürlich.
Zusammen gehalten einzig durch die Meta-Narrativen unserer Zeit, die in den Träumen und Alltagsrealitäten der Millennials immer mitschwingen: Digitalisierung, Globalisierung, Klimawandel, Zuwanderung.
Vom Krieg in die WG-Küche
Was hat die Dragqueen Candy Crash, die in der Metropole Berlin Rentner umstylt, denn schon mit Ann Catharina gemeinsam, die in den Weiten Lapplands Rentiere züchtet? Ihre Lebensrealitäten überschneiden sich nicht.
Wir können verfolgen, wie Soldat Aleksandr im ostukrainischen Konfliktgebiet seinen Dienst an der Front antritt. Schon dreimal ist er in diesem Krieg schwer verwundet worden.
Doch schon in der nächsten Minute geht es zurück in der Zürcher WG-Küche, wo sich Doni und sein Mitbewohner zur selben Zeit beim Frühstück über ihre Erfahrungen mit Sex unter LSD-Einfluss austauschen.
Würdevolles Reality-TV
«24h Europe» ist voll solcher harter Kontraste. Der Film legt offen: Das eine Bild von Europa gibt es nicht. Europa bedeutet überall etwas anderes – es ist ein Kontinent der Ungleichheit.
Das Dokfilm-Mammutprojekt «24h Europe» feiert die Vielfalt. Es liefert ein faszinierendes Kaleidoskop an Gesichtern, Geschichten, Hoffnungen und Realitäten.
Die Kamera blickt tief in die Wohnzimmer, Arbeitsplätze, Träume und Ängste anderer Menschen – intim und doch zu jeder Zeit würdevoll: Reality-TV, wie es besser nicht geht.