Nur für die Sex-Szenen hat sich Stephen Follows 250 Filme angeschaut. Dabei hat er kein verschrobenes Verhältnis zur Pornografie. Er ist Datenanalyst und fand heraus: Im Kino geht es immer weniger heiss zu und her. In den frühen 2000er-Jahren fand Follows noch in rund 80 Prozent der untersuchten Filme Sex-Szenen. 2023 sank die Quote sexueller Darstellungen auf fast 50 Prozent.
Nebst den Daten liefert Follows in seiner Analyse auch Spekulationen über die Gründe: Um lukrativ zu bleiben, müssen Grossproduktionen weltweit und in vielen Kulturen funktionieren. Allenfalls störende Obszönitäten werden deshalb gleich von Anfang an weggelassen. Aber auch ein immer grösseres westliches Publikum heisst explizite Erotik nicht gut – gerade auch die Generation Z, wie eine Studie herausfand.
Und auch in den sogenannten «Intimacy Coordinators» sieht Follows einen Grund für den puritanischen Trend. Als Folge der #MeToo-Bewegung werden sie vermehrt in die Filmproduktionen miteinbezogen und sorgen dafür, dass die vulnerablen Drehtage reibungslos ablaufen. Laut Follows könne allein das Bewusstsein um ihre Existenz Sex-Szenen verhindern, sofern diese nicht wesentlich zum Narrativ beitragen.
Weniger Sex-Szenen sind ein westlicher Trend
SRF-Filmredaktor Georges Wyrsch kann diese Entwicklung bestätigen, jedoch mit einem grossen Aber: Der Datensatz der Analyse beinhalte die 250 erfolgreichsten Filme der letzten 23 Jahre. Diese stammen mehrheitlich aus Hollywood. In Filmen aus anderem Kontext könne eine zunehmende Entsexualisierung nicht beobachtet werden: Das indische Pendant Bollywood zum Beispiel sei schon seit jeher keusch.
Hollywoods distanziertere Beziehung zur Erotik sieht der Filmredaktor auch nicht begründet in der Unlust der Generation Z. Vielmehr habe sich unser aller Konsumverhalten verändert. Filme würden – Handy sei Dank – auch in aller Öffentlichkeit geschaut. Da wolle sich niemand beim vermeintlichen Pornoschauen erwischen lassen.
Sex-Szenen sind rarer aber bedeutungsvoller
Auch Stephen Follows Schlussfolgerung, dass aufgrund von «Intimacy Coordinators» weniger Erotik in Filmen gezeigt werde, widerspricht Filmredaktor Georges Wyrsch: «Wenn diese in die Produktion miteinbezogen werden, steht schon fest, dass es intime Szenen gibt. Sie verhindern sie nicht, sondern sorgen dafür, dass sie für alle einvernehmlich umgesetzt werden.»
Der Gedanke, dass erotische Darstellungen nur noch dem Narrativ dienen müssen, sei nicht zutreffend. «Dargestellte Sexualität ist vielmehr Teil ästhetischer Entscheidungen», meint Wyrsch. Mit dem voyeuristischen Blick habe das nicht mehr viel zu tun. Explizite Szenen würden heute benutzt, um gesellschaftliche Debatten rund um Sexualität aufzunehmen.
Oft sind deshalb diejenigen Szenen, die gezeigt werden, auch nicht einfach nur behaglich – das zeigte sich jüngst in so unterschiedlichen Filme wie in «Saltburn» oder «Love lies Bleeding». Dafür gewinnen sie an gewichtigerer und diverserer Bedeutung.