Etwa anderthalb Jahrzehnte brauchte es, um das jahrhundertealte Gesicht der Animation von Grund auf zu verändern. Das Losungswort der Revolution hiess 3D-CGI (Three-Dimensional Computer-Generated Imagery). Vorreiter dieser neuen Herstellungsmethode war die junge Produktionsfirma Pixar mit ihrem Bannerträger John Lasseter, dessen erster Langfilm «Toy Story» (1995) die Wende auslöste.
Matchentscheidend am Plot mitgeschrieben haben ausserdem Apple-Mitbegründer Steve Jobs, der die damals kleine Software-Firma 1986 von George «Star Wars» Lucas übernommen hatte. Ausserdem beteiligt waren die Disney Studios, welche 1991 mit Pixar einen Vertrag über die Produktion dreier animierter Langfilme abgeschlossen hatten.
Die grosse Wende
Der Umbruch war radikal, auch in der allgemeinen Wahrnehmung des Publikums. Wenn ich mich früher als Animationsfilmschaffender zu erkennen gab, folgte meist die Frage nach dem Was: «So Disney, Bugs Bunny? Fürs Fernsehen? Puppen, wie die Tschechen? Pingu?» Um sich alsbald schwelgend in Erinnerungen an grosse Momente des Staunens und der Verzauberung zu verlieren.
Heute gehört die erste Frage gemeinhin dem Wie – mit welcher Software ich arbeite. Oder, kleine Variante, welche denn die Beste sei. Dass die schöne neue Welt ganz selbstverständlich aus dem Computer kommt, hat die einstige technische und gestalterische Vielfalt fast vollständig aus dem Bewusstsein gefegt.
Der kleine Unterschied
Dem begegne ich mit dem Bemühen, anschaulich zu machen, dass genau wie in der Musik nicht das Instrument Garant für gute Musik ist. Dort hat der Computer schon längst Einzug gehalten, ohne dass die alten Geigen, Trompeten und Klaviere deswegen überflüssig geworden wären. Entscheidend für die Qualität ist nach wie vor das Verständnis, was gute Musik ausmacht, sowie das Talent und praktische Können der musizierenden Person. Die Klippe, an welcher der Erklärungsversuch jedoch allzu oft scheitert, ist die Verwechslung von erfolgreich und gut.
Denn erfolgreich sind sie über alle Massen, die Produkte der neuen Marktführer Pixar («Ratatouille», «Brave»), DreamWorks («Shrek», «Madagascar») und Blue Sky («Ice Age»). Und so wie die Kosten für die Produktionsmittel gefallen sind – ganz im Gegensatz zu den Produktionsbudgets notabene – ist die Flut jener, die auch ein Stück vom Kuchen wollen, exponentiell gewachsen.
Allein, je mehr Studios aus allen Ecken der Welt auf den stark umkämpften Markt drängen, desto schwieriger wird es, deren Produkte voneinander zu unterscheiden. Denn die meisten der neuen Anbieter hecheln stilistisch und inhaltlich den erfolgreichen Vorbildern hinterher.
Der Computer: Hilfe und Hindernis
Filmtrailer
Auch das digitale Arbeitsgerät hinterlässt seine Spuren. 3D-Software ist hochkomplex, ihrer Natur gemäss auf Rationalisierung und Standardisierung angelegt und mit einem Übermass an automatisierten, vorformatierten Gestaltungsvorschlägen ausgestattet. Abgesehen davon arbeiten alle Studios mit den immer gleichen Programmen. Also das Gegenteil eines Hilfsmittels für individuellen Ausdruck. Strebt man letzteres aber trotzdem an, wird die Sache schnell aufwändig. Dann gilt es nämlich, die Anwendungsvorgaben zu überwinden und die Rechner dazu zu bringen, Dinge zu liefern, für die sie nicht gemacht wurden.
Dafür kann aber alles, das einmal berechnet wurde, gespeichert, beliebig variiert und vor allem wiederverwendet werden – Figuren samt Bewegungscharakteristiken, Dekor, Naturereignisse wie Feuer oder Regen, usw. Also das ideale Hilfsmittel, wenn Wiederholung des ewig Gleichen ein Kernelement des Konzepts ist, oder generell für jede Art von Massenware ab der Stange, sprich Serien. Wer wundert sich da, dass auf einen Erfolg die Fortsetzung folgt wie das Amen in der Kirche – mehrfach, wenn der Erfolg anhält («Toy Story», «Shrek», «Ice Age»…).
Daraus folgt ein neues Problem: Wie kann man sich von der Konkurrenz – der Massenware überhaupt – abheben? Etwa mittels Perfektionierung der Software, an welcher auch das ETH-Institut Disney Research Zurich beteiligt ist? Dank welcher dann der Pelz von Sully, einer der Hauptfiguren von Pixars «Monster Inc.», im Sequel «Monster University» mehr als dreimal so viele Haare aufweist als noch in der ersten Folge?
Mit den Händen formen
Ironischerweise liegt einer der Schlüssel zu Auswegen aus dieser Zwickmühle ausgerechnet im Rückgriff auf herkömmliche, traditionelle Techniken, wie am internationalen Animationsfestival von Annecy erneut eindrücklich zu sehen war. Dies zeigte sich insbesondere bei Produktionen europäischer Herkunft. Einer der Gründe für diese Wahl sind die im Vergleich zu CGI geringeren Kosten, da die finanziellen Möglichkeiten in Europa aufgrund der zerstückelten Marktsituation seit jeher beschränkt sind.
Zwar markierten die 3D-CGI-Filme mit einem Drittel der 30 Langfilme ihre dominante Marktpräsenz. Aber die gezeichneten Filme – über der Hälfte des Angebots – hielten gut dagegen. Der Vorteil ihrer Eigenartigkeit, mit welcher sie sich stilistisch von den Standard-CGI-Produktionen unterscheiden, offenbart sich schon beim Anblick der Filmstills im Katalog. Filme wie die neue, sehr nahe dem Text folgende Pinocchio-Verfilmung des Italieners Enzo d’Aló oder «Tante Hilda!» der Franzosen Jacques-Rémy Girerd («La prophétie des grenouilles») und Benoît Chieux zeigen eindrücklich, wie die Autoren über den Zeichenstift die Produkte ihrer Vorstellungskraft direkt ins Bildmedium einfliessen lassen. Sie können sie zu jedem beliebigen Zeitpunkt mit unendlicher Vielfalt variieren, ohne dass erst die passende Software gesucht werden müsste.
And the Winner is…
Den grossen Preis für Langfilme gewann ebenfalls ein gezeichneter Film: «Uma História de Amor e Fúria» («Rio 2096: Eine Geschichte über Liebe und Wut») von Luiz Bolognesi, der erste brasilianische Animationsfilm diesen Formats. Er ist sowohl eine Liebesgeschichte als auch eine von Actionfilmen und -games inspirierte, furiose Lektion über vier Episoden aus der 600-jährigen Geschichte des Landes, inklusive Vorausblick auf das Ende des laufenden Jahrhunderts.
Drei Puppenfilme im Wettbewerb bestätigten das anhaltende Interesse an der traditionellen Stop-Motion-Technik, die mit ihrer physischen Realität dem virtuellen Gegenpart die haptische Sensualität voraushat. Mit «O Apóstolo» («Der Apostel»), einer unheimlichen Spukgeschichte in den Wäldern Galiziens abseits des Jakobswegs, eroberte der Spanier Fernando Cortizo Rodriguez die Herzen und den begehrten Preis des Publikums.
Dass bei der Mehrheit der analogen Produktionen die digitalen Hilfsmittel im Hintergrund trotzdem mit im Spiel sind, braucht das Publikum ebenso wenig zu interessieren wie beim Realfilm, wo der virtuelle Anteil an Bühnenbildern, gefährlichen Ereignissen (Explosionen, Naturkatastrophen usw.) bis hin zu Szenen mit grossem Aufgebot an Komparsen, konstant zunimmt. Natürlich ohne dass dies vom Publikum bewusst wahrgenommen wird – und auch nicht werden soll.
Alle erwähnten Filme hätten auch in den Schweizer Kinos durchaus Marktpotential. Bleibt zu hoffen, dass sich Verleiher finden, welche die Gelegenheit dazu verschaffen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden sie auch am nächsten Fantoche-Festival in Baden zu sehen sein.