«Das Leben drehen»: Das muss für Sie auch ein therapeutisches Unternehmen gewesen sein?
Eva Vitija: Es hat immer auch biographische Gründe, warum ein Film so wird, wie er wird. Unsere ganze Familie besteht aus Psychotherapeuten und Filmemachern. Dieser Film war meine kleine Psychoanalyse. Auch wenn mein Produzent das nicht gerne hört.
Ihr Vater, der Schauspieler, Filmregisseur und Radiopionier Joseph Scheidegger, schenkte Ihnen zum 18. Geburtstag einen Film: den Zusammenschnitt seiner Video-Aufnahmen von Ihnen. Sie haben sich den Film jahrelang nicht angeschaut. Und eine Weile nicht mehr mit dem Vater gesprochen. Warum so heftig?
Es war wie das Tüpfelchen auf dem i: Dass er von mir erwartet, ich freue mich auch noch darüber. Sein pausenloses Filmen war unser ewiger Streit – vor allem in der Pubertät. Da will man nicht ständig beobachtet und gespiegelt werden.
Während es in der Kindheit normal war?
Es hat mich schon als Kind gestört, auf ein bestimmtes Bild reduziert zu werden. Im Familienalbum ist man ja einfach immer das herzige kleine Mädchen. Wobei viele Leute sagen: «Wie schön, deine ganze Kindheit ist dokumentiert!» Filmen bedeutet offenbar: Man wird wahrgenommen.
Gerade Bilder aus dem Familienalbum haben es aber auch so an sich, dass man sie mit den eigenen Erinnerungen verwechselt.
Oh ja. Mit der Zeit weiss man nicht mehr, ob man sich an ein Bild erinnert oder an den Moment, in dem etwas stattfand. Es gibt allerdings auch Dokumentationsformen, die uns Leerstellen lassen, Raum für Imagination: Fotos. Tonbandaufnahmen!
Und trotzdem sind Sie Filmemacherin geworden.
Ich habe lange abgestritten, dass das etwas mit meinem Vater zu tun haben könnte. Was sicher geholfen hat: Mein Vater war sehr begeistert von seinem Beruf.
Wenn man sich die vielen Gespräche ansieht, die Sie im Film mit Mutter und Bruder führen, stellt sich der Eindruck ein: Sie haben zuhause wenig über Vaters Obsession gesprochen.
Das ist doch typisch Familie: Was einen am meisten beschäftigt, ist lustigerweise auch genau das, worüber man am wenigsten spricht. Vielleicht ist das ein gesunder Reflex. Man will es gut haben. Muss den Alltag meistern.
Für «Das Leben drehen» mussten Sie unzählige Stunden Familienfilm sichten. Nach dem wievielten verwackelten Picknick-Ausflug war der Punkt erreicht, an dem Sie sagten: «Jetzt reicht’s?»
Ich habe das alles verschlungen! Das hat sicher auch damit zu tun, dass mein Vater vorher starb. Ich konnte so seinen Tod verarbeiten. Das war die aktive Aneignung eines Prozesses, von dem ich sonst nicht gewusst hätte, wie ich den angehe.
Im Zeitalter von Smartphone und Social Media ist es normal geworden, dass Kinder in Echtzeit vor den Kameras der Eltern aufwachsen. «Das Leben drehen» – auch ein kleiner Warnfinger?
Mich hat immer die Frage begleitet: Warum soll meine private Familiengeschichte jemanden interessieren? Genau deshalb: Weil es heute die Regel ist, dass man das eigene Leben akribisch dokumentiert. Und heute sogar öffentlich.
Für Ihren Vater war es noch ein rein privater Irrsinn.
Er hätte sicher nie gedacht, dass aus seinem Archiv einmal ein Kinofilm werden könnte. Es war nicht für eine Veröffentlichung gedacht. Aber für die Nachwelt, das war klar.
So wie das Tagebuch, von dem man sich heimlich wünscht, es werde gefunden und gelesen?
Wir sprachen Vater einmal darauf an, warum er nicht selber etwas daraus mache. Das war für ihn kein Thema. Dafür hielt er sein Material für zu wenig relevant.
«Das Leben drehen» ist ein sehr intimer Film geworden. Wie gross ist die Angst, dass man Ihren Vater einfach als kleinen Spinner und grossen Narziss abtun wird?
Ich hoffe nicht, dass die Leute ein zu negatives Bild von ihm erhalten. Er war sehr liebevoll. Wir hatten ein gutes Verhältnis.
Wie gut schläft es sich mit dem Wissen, dass die eigene Familiengeschichte nicht mehr nur Ihnen gehört?
Ich mag es, wenn jemand sich in der Kunst ausstellt – bis zu einem gewissen Grad ausstellt. Ich empfinde das nicht als Blossstellung. Ausserdem bin ich es, die diese Geschichte erzählt. Ich bin da in einer privilegierten Position.
Ein Blick in die Zukunft: Worauf werden Ihre Kinder sich einmal gefasst machen müssen?
Auf Tonbandaufnahmen. Und Fotos. Meine Kinder könnten sicher keinen Dokumentarfilm darüber machen, wie sie aufgewachsen sind. (lacht)
Kinostart: 5.5.2016