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Film & Serien Lars von Trier weckt Gespenster, die wir alle in uns herumtragen

Die Provokation in Lars von Triers «Nymph()maniac»-Filmen liegt nicht im Sex und auch nicht im pornographischen Blick. «Forget about Love» warnt das Plakat – vergiss die Liebe. Und da packt einen der Däne bei den sprichwörtlichen Eiern, auch die Frauen.

Sex sells. Aber natürlich ist es nicht wirklich der Sex, der lockt. Es ist das Versprechen von möglichem – oder noch besser – unmöglichem Sex, das der wahre Verkäufer wie eine Keule schwingt.

Was wurde nicht alles im Vorfeld von «Nymph()maniac» versprochen: Es begann mit den ersten Sprüchen zur nackten Kirsten Dunst in «Melancholia» an der Pressekonferenz am Filmfestival in Cannes. Und es endete noch lange nicht damit, dass sich zum Filmstart von «Nymph()maniac» im vergangenen Dezember die wichtigsten dänischen Filmkritikerinnen und Filmkritiker mit den gleichen orgasmus-verzerrten Gesichtern fotografieren liessen, die auch das offizielle Filmplakat zieren.

Eine nymphomanische Lebensbeichte

Dabei kommt in «Nymph()maniac» kaum einer von den auf dem Plakat gezeigten Schauspielerinnen und Schauspielern auch nur in die Nähe eines Orgasmus. Weder Uma Thurman noch Christian Slater, auch Willem Dafoe nicht und auch nicht Connie Nielsen. Und schon gar nicht Stellan Skarsgård, der den Seligman spielt. Jenen asexuellen, abgeklärten, beichtväterlich gütigen Bildungsbürger, dem Charlotte Gainsbourgs geschundene Joe ihre nymphomanische Lebensbeichte ablegt.

Diese Lebensbeichte bildet die Klammer der beiden Teile von «Nymph()maniac». Jene Klammer, welche im Titel-Schriftzug typographisch in die Mitte gerutscht ist, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie ein geschickt gesetztes, rein zeichenhaftes Versprechen im Kopf der Empfänger zu schamlippiger Eindeutigkeit aufblühen kann.

Provokation im lustvoll gequälten Dialog mit sich selber

Mit Lars von Trier ist seit Jahrzehnten ein Könner am Werk, ein Zirkusdirektor, ein Erzähler, ein Handwerker und mit ihm eine eingeschworene Truppe. Sie waren die Leute, die schon 1994 mit den Geisterspitalgeschichten von «Kingdom» (Riget) die heute omnipräsenten Fernsehserien vorwegnahmen. Und Lars von Trier ist das Inspirationsgenie, das stets von Neuem zu provozieren weiss, im lustvoll gequälten Dialog mit sich selber und seinen eigenen, durchaus vorhandenen Dämonen.

Nehmen wir den Anfang von «Nymph()maniac». Es beginnt in absoluter Dunkelheit (welche die meisten Kinos leider nicht hinbekommen) und mit undefinierten Regen-Geräuschen. Ziegelmauern kommen ins Bild, ein quietschender Ventilator in einer Aussenwand. Die Wände evozieren Ghetto-Gassen, die Kamera fährt auf eine metallumrandete Öffnung zu, einen Orkus, die Öffnung eines Verbrennungsofens – oder auch bloss ein Stück Studio-Kulisse, in der der im Verlauf seiner Erzählungen dann mehrfach als nicht religiöser Jude definierte Seligman (Stellan Skarsgård) die geschundene, zertretene, verletzte Joe (Charlotte Gainsbourg) finden wird. Von Polizei oder Ambulanz will sie nichts wissen, also nimmt Seligman die Frau zu sich nach Hause, steckt sie ins Bett und nimmt ihr über insgesamt acht Kapitel und zwei Filme die Lebensbeichte ab.

Eine genial unschuldige Provokation

Nachdem Lars von Trier am Filmfestival von Cannes wegen einer als hitlerfreundlich interpretierten Äusserung zur Persona non grata erklärt worden war, ist dieser Filmeinstieg einmal mehr die pure Provokation – und zugleich so genial unschuldig wie die Klammern im Filmtitel: Was immer dabei im Kopf der Zuschauer auftaucht, es muss schon dort gewesen sein. Es sind die Geister von «Kingdom», die Gespenster der abendländischen Geschichte, und wir tragen sie alle mit uns herum. Lars von Trier weckt sie auf.

Wenn nun Joe dem staunenden Seligman erzählt, wie sie zur Überzeugung gekommen ist, ein schlechter Mensch zu sein und ihren zerschlagenen Zustand selber verschuldet zu haben, dann ist das im Kern der ewige Dialog des Lars von Trier mit sich selber. Ist meine Sexualität des Teufels? Sind meine dunklen Triebe schlecht? Ist die Kälte der Mutter der obsessiven Wärme des Vaters überlegen?

Seligman bietet die ganze Geschichte des Abendlandes auf, um Joe davon zu überzeugen, dass ihre obsessive Suche nach sexueller Erfüllung sie nicht zu einem schlechten Menschen gemacht hat. Und Joe hält mit ihrer ganzen Frustration dagegen, mit der Erfahrung, dass die bleibende Erfüllung nie zu haben ist, dass sie Versprechen bleibt.

Die unerwartete Liebe zerstört den Sex

Das Schöne an «Nymph()maniac, Teil 1» ist dabei nicht zuletzt dieses Versprechen. Es beginnt damit, dass die kleine Joe mit ihrer Freundin auf dem nassen Badezimmerboden herumrutscht und dabei ihre Sexualorgane und ihre wunderbare Stimulierfähigkeit entdeckt. Das steigert sich im Verlauf von Teil 1 über Klettern am Seil, gezielt gesuchte Entjungferung zur immer besesseneren Jagd nach schnellem Sex. Und endet damit, dass die unerwünschte, unerwartete Liebe den Sex zerstört.

Der Trailer zu «Nymph()maniac»

«Nymph()maniac, Teil 1» ist ein filmisches, inszenatorisches und schauspielerisches Fest. Bis auf den marketingmässig ideal und provokativ fehlbesetzten Shia La Beouf als Joes Gegenpart und andere Hälfte Jerôme bekommen alle Schauspielerinnen und Schauspieler reichlich Gelegenheit, eigentliche Binnenkabinettstücke vorzuführen, allen voran Uma Thurman als Furie der Eifersucht.

Ein rundes Kinoerlebnis

Sexszenen gibt es viele, die trick- und schnitttechnisch bewältigte Kombination von Schauspielergesichtern mit Pornodarsteller-Körpern ist dermassen perfekt, dass sie auch Behauptung sein könnte. Und es ist eigentlich nie der Sex, der provoziert, sondern stets alles andere.

Am Ende ist «Nymph()maniac, Teil 1» ein überraschend schönes, erfüllendes und rundes Kinoerlebnis, ein anregendes, vielschichtiges Eintauchen in sehr persönliche Fragen, Ängste und Hoffnungen.

Das wahre Exerzitium, die Zerlegung, Zersplitterung und Zerhämmerung, die kommt dann mit «Nymph()maniac, Teil 2». Versprochen.

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