«Wie ist es im Koma?» – «Probieren sie’s aus!» Mit derartigen Sprüchen tritt der kauzige Rechtsmediziner Dr. Alois Semmelweis im Bestatter auf. Martin Ostermeier spielt den eingewanderten Wiener und auch er ist ein klein wenig verschroben, dafür wach und kritisch. Am Tag der Ausstrahlung der neuen Staffelfolge sitzt der 44-jährige Bayer in einem Zürcher Kaffee. Leicht nervös wirkt er; es sei immer schrecklich, sich selber im Film zu sehen, erklärt der Wahl-Zürcher mit dem jugendlichen Aussehen.
Die Folgen der Gewalt
Seit Beginn wurde die Figur des Dr. Alois Semmelweis ausgebaut, die psychischen Auswirkungen des Mordanschlags auf Semmelweis erhalten einiges an Gewicht. Dies ist durchaus gerechtfertigt, wie Ostermeier findet: «Heute haben wir täglich Zugang zu Informationen über Gewalttaten. Damit werden sie beinahe Normalität. Dagegen kontrastiert Semmelweis’ Geschichte: Sie erhält den nötigen Raum, der in der schnellen Fernseherzählweise meist zu kurz kommt. Oft werden Kommissare angeschossen und stehen zwei Wochen später wieder in der Kantine, als ob nichts geschehen wäre.»
Ostermeier will Semmelweis’ Verhalten nicht als Wahnsinn bezeichnen. Stattdessen nennt er die medizinische Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS. «Semmelweis hat einen Mordanschlag in seiner vertrauten Arbeitsumgebung erlebt. Das ist krass und führt zum Verlust des Urvertrauens.»
Auf die Rolle des traumatisierten Wieners bereitete sich Ostermeier intensiv vor. Er führte Gespräche mit den Drehbuchautoren, Medizinern, einer PTBS-Patientin und las Bücher des Rechtsmediziners Michael Tsokos. Die Welt der forensischen Medizin fasziniert ihn, das kalte wissenschaftliche Auge, mit dem der Rechtsmediziner durch das erste Grauen hindurchsehen könne. Und dass Semmelweis stellenweise als Freak rüberkommt? «Das ist gut so. Freaks sind interessanter!»
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Die Schweizer Terra incognita
An die Rolle des Wieners Semmelweis kam der Martin Ostermeier durch eine zufällige Begegnung mit einem befreundeten österreichischen Grafiker, der auch mit dem Drehbuchautor bekannt war. Im Gespräch verfiel Ostermeier, der in Salzburg Schauspiel studiert hatte, in den Österreicher Dialekt – «I mag des holt wahnsinnig gern». Die Rolle hat es ihm auf Anhieb angetan. Die Österreicher hätten viele Leute hervorgebracht, die ihn interessieren würden, wie Ulrich Seidl, Michael Haneke und Birgit Minichmayr oder Arthur Schnitzler und Ödön von Horvath.
Aufgewachsen ist Ostermeier in Landshut in Bayern, sein Elternhaus bezeichnet er als «kleinstes Kleinbürgertum», der Vater Berufssoldat, die Mutter Verkäuferin. Trotz der geografischen Nähe – Landshut liegt drei Stunden von der Schweizer Grenze entfernt – wusste er als Kind nichts über dieses Land. «Wer Geld hatte, konnte in die Schweiz reisen – für uns war das unbekanntes Land, eine Insel.» Als Martin Ostermeier in die Schweiz kam, kaufte er sich als Erstes ein Schweizer Geschichtsbuch.
Serbokroatisch und Philosophie an der Universität Zürich
Ein festes Engagement am Luzerner Theater lockte ihn vor 17 Jahren in die Innerschweiz. Seit 14 Jahren lebt Ostermeier in Zürich, das er mittlerweile als seine Heimat bezeichnet. Seine Leidenschaft allerdings gilt einer anderen Gegend: Serbien und dem Raum des ehemaligen Jugoslawiens. Die Gründe liegen unter anderem in der Musik: «Ich liebe den Balkansound. Als ich die Musik zum ersten Mal im Film Underground von Kusturica gehört habe, war das wie eine Explosion für mich.» Seit seinem ersten Besuch in Belgrad 1999 reiste er zahlreiche Male dorthin und lernte Bekannte und Freunde kennen. Aus Liebe zur dortigen Musik entstand ein kurzer Dokumentarfilm.
Die Gründe für den Zerfall Jugoslawiens beschäftigten Ostermeier. Auch mit dieser Frage setzte er sich wie bei der Vorbereitung seiner Rollen gründlich auseinander: Neben seinem Schauspielberuf studierte er an der Universität Zürich Serbokroatisch und Philosophie. Die treibende Kraft dafür war reines Interesse, eine akademische Karriere war kein Thema. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei bis heute Ludwig Wittgenstein, «ein sehr spezieller Typ, aber interessant.» Auch er ein Wiener. Für Ostermeier kein Zufall: «Die habens drauf.»