Herr Gnädinger, Sie haben gesagt, Sie könnten keinen griechischen Helden verkörpern. Stattdessen würden Ihnen sogenannte «Bauernrollen» besser zusagen. Hat das mit Ihrer Herkunft aus einem bäuerlichen Umfeld zu tun?
Ja. Klar, der Bruno Ganz ist Zürcher, sein Vater war Elektriker – der hat auch eine andere Herkunft als ein griechischer Held. Er aber versteht zum Beispiel den Friedrich Hölderlin. Mir hingegen ist es von meiner Intelligenz her beim Hölderlin manchmal schlicht zu hoch.
Ich wuchs auf einem Bauernhof bei meinem Onkel auf, etwa 200 Meter von dem Haus entfernt, in dem meine Eltern und meine vier Brüder lebten. Für meinen Onkel Sepp, ein Bauer und späterer Kunstmaler, war ich eine Art Knecht. Wir haben alles miteinander gemacht: gheuet, ghärdöpflet und was man halt alles so macht als Bauer. Das ländliche Leben hat mich sehr geprägt.
Sie hatten eine enge Verbindung zu Ihrem Onkel. Was bedeutete Ihnen Ihr Vater?
Mein Vater war eine wichtige Person in meinem Leben. Mit 15 hab ich mir aus Jux eine Pistole gekauft, einen richtigen Revolver. Mein Vater – ein überzeugter Pazifist – hat das bemerkt. Er liess die Waffe verschwinden und sagte bloss am Mittagstisch, da habe einer der fünf Brüder eine Waffe besorgt, der müsse nicht glauben, dass er die je wiederfände!
Ich fand sie später trotzdem wieder: Mein Vater war Gemeindeschreiber. Wenn jeweils Briefe an die ganze Bevölkerung verschickt werden mussten, half ich ihm im Büro beim Beschriften der Couverts. Bei dieser Gelegenheit durchsuchte ich alle Schubladen und fand den Revolver wieder. Nun liess ich ihn verschwinden – es wurde nie mehr darüber gesprochen.
Welche Themen wurden im Alltag besprochen?
Bei uns zu Hause wurde rege politisiert, mein Vater war politisch sehr aktiv. Er war eine integrative Figur in der Gemeinde. Die Reformierten und die Katholiken waren damals im Dorf streng getrennt. Der Turnverein war reformiert, der Musikverein katholisch, einzig der Fussballclub war bereits damals ökumenisch. Mein Vater vereinte die zwei Lager dank der Gründung eines zentralen Übervereins, der kulturelle Anlässe durchgeführt hat.
War die Vereinigung von Dauer?
Ja, heute ist das im Dorf kein Problem mehr, es gibt einfach zwei Kirchen und zwei Friedhöfe. Man kann sich gar als Reformierter auf dem katholischen Friedhof beisetzen lassen. Bei den Katholischen ist es eben etwas hübscher als bei den Reformierten – aber das kommt ja dann nicht mehr so drauf an, oder.
Beschäftigt Sie das Thema Tod?
Ja. Wennd emol 72 bisch, muesch scho mal anfange nadenke, wenn's eim putzt! Daran studiere ich oft herum. Ich habe eine ziemliche Angst vor dem Verbrennen.
Schreiben Sie Ihre Gedanken dazu auf?
Nein. Ich sag‘s einfach meiner Frau.
Zum Stichwort Frauen: Wir haben über Ihren Vater gesprochen, zu Ihrem Onkel hatten Sie eine enge Beziehung und Sie haben vier Brüder. Männer scheinen in Ihrer Familie dominant zu sein. Welche Rolle spielten die Frauen?
Meine Mutter hat meinem Vater den Rücken gestärkt, tat dies aber mehr im Stillen. Sie konnte sehr gut Maschine schreiben, da sie die Höhere Töchterschule in St. Gallen besucht hatte. Sie kam aus einer Schriftsetzer-Familie aus gutem Hause.
Ein altes Familienfoto dokumentiert unsere damalige Lebenswelt sehr gut: Als meine Eltern 1940 mitten im Krieg heirateten, kamen der Herr Grosspapa und die Grossmama, die Eltern meiner Mutter, zur Trauung. Er mit Frack und Zylinder, sie – eine Sizilianerin mit Appenzeller Blut – elegant gekleidet samt Hütchen. Daneben steht mein Grossvater in einem ganz normalen Bauerntschoopen mit normalem Hut. Als die sich begegneten, prallten zwei Welten aufeinander, das war unglaublich!
Was war Ihre Mutter für eine Person?
Sie war eine brave, erzkatholische Frau. Wenn Kinder auf Reise gehen, werden sie doch normalerweise umarmt und kriegen ein Küsschen. Bei uns hingegen machte man ein Kreuz auf die Stirn, dann durften wir davon ziehen.
Sie sagten einmal, Sie seien stolz, Schweizer zu sein. Was ist das für eine Schweiz, auf die Sie stolz sind?
Ich weiss nicht, ob man stolz sein kann, dass man hier geboren wurde. Schlussendlich ist es doch Glück, wo wir zur Welt kommen. Wenn ich daran denke, an wie vielen Orten der Welt die Menschen von anderen Menschen verfolgt und gefoltert werden, gibt mir das schon zu denken. Wir wissen ja gar nicht, wie gut es uns geht.
Im Film «Das Boot ist voll» von Markus Imhoof wird Ihre Familiengeschichte erzählt: Eine Gruppe von Flüchtlingen kommt während des Zweiten Weltkrieges zu Fuss über die Grenze in die Schweiz und findet bei einer Familie Unterschlupf. Sie spielen im Film die Rolle eines Wirtes, der den Flüchtlingen nach anfänglichem Widerstreben hilft. Prägte diese Familienerzählung ihre Einstellung?
Klar. Man kann sich doch nicht einfach abkapseln und sagen, uns Schweizer geht das alles nichts an! Wir spürten die Nähe zur Grenze immer. Sicherheit und Frieden, das sind alles bloss Schlagworte. Schlussendlich schätze ich an der Schweiz, dass man einigermassen in Ruhe gelassen wird.