Die Autorenseite von Swissfilms bezeichnet Mathieu Seiler als Autodidakten. Und wenn der heute 40-Jährige nicht schon so früh, nämlich mit 17, angefangen hätte, wäre seine Filmographie heute noch sehr kurz. Das liegt unter anderem daran, dass Seiler in hohem Mass seine eigenen Visionen umsetzt. Er hat sich weder als sozialkritischer Auteur noch als Genrefilmer etabliert, auch wenn seine Filme geprägt sind vom Fantastischen – und von einer durchaus disziplinierten Fantasie zeugen.
Skandalöses Frühwerk
Sein bekanntester Film ist «Stefanies Geschenk» von 1996, basierend auf einem Drehbuch, das er mit 19 geschrieben hatte. Der Film stellt eine Zwölfjährige ins Zentrum, die mit sich, ihrer Umwelt und ihren eigenen Veränderungen Mühe hat und sich eine eigene Vorstellungswelt baut. Mit den Schweizer Theater-Titanen Werner Düggelin und Norbert Schwientek als eigenartigen Agenten des Bösen – oder einfach zwei Dirty Old Men – skandalisierte der an sich sehr feinfühlige und poetische Film einige Zuschauer ziemlich nachhaltig – und dies zu einer Zeit, in der die Pädophilie-Debatte noch längst nicht ihre gröbsten Blüten getrieben hatte. Eine Zwölfjährige als latent sexualisierte Frau zu zeigen, schien manchen schon damals nicht geheuer.
Heute ist Seiler vorsichtiger, noch subtiler, noch poetischer, aber letztlich nicht weniger entschlossen. «Der Ausflug» (bereits sein zweitjüngster Film, der nächste wird eben fertig) nimmt das Werwolf-Motiv auf, das Neil Jordan in «The Company of Wolves» 1984 und Paul Schrader zwei Jahre zuvor in «Cat People» schon höchst erfolgreich auf die weibliche Sexualität und die (männliche) Angst vor ihr übertragen hatten.
Familienausflug mit Spannungen
Die kleine Flora (verblüffend präsent: Alina Sophie Wiegert), ein Kleinmädchentraum in blond und rosa, fährt mit ihren jungen Eltern und der Schwester der Mama zum Picknick in die Wälder hinter Berlin. Im weissen Volvo und mit einer spürbaren Spannung zwischen den Erwachsenen. Papa will tief in den Wald, ihm kann es nicht wild genug sein, findet er. Regt sich dann aber doch darüber auf, dass seine Frau sowohl die Gläser wie auch den Korkenzieher vergessen hat. Dabei wäre der Wein gar nicht nötig gewesen, denn bald schon schlafen alle vier auf der Picknick-Decke friedlich – nachdem die drei Frauen noch kurz im Gebüsch verschwunden waren.
Nach einer Schwarzblende wacht Flora auf dem Waldboden auf. Mit Schürfungen an den Gliedern und Blutspuren im Gesicht. Das Kleidchen zerrissen, die Sandalen lose im Moos. Sie stolpert leicht benommen zwischen den Bäumen umher, bis sie auf ihre Mutter stösst,die sich in vergleichbarem Zustand befindet. Wenig später stösst auch die Schwester dazu, doch der Mann bleibt verschwunden. Dafür treffen sie auf der Suche nach dem Auto auf eine noch laufende Motorsäge auf dem Waldboden – vom Forstarbeiter fehlt dagegen jede Spur.
Grossmutter und der Wolf
Zuflucht finden die drei Frauen in einem Häuschen im Wald, das, wie sich bald herausstellt, der Grossmutter gehört. Der Grossmutter des kleinen Ivo, der natürlich fragt, was die drei Frauen wollen. Und wo die Grossmutter sei. Die Wolfsmotive sind schon früh im Film präsent, Flora hört beim Pullern im Wald ein Knurren, was sie aber nicht daran hindert, mit ein paar saftigen Erdbeeren zum Auto zurückzukehren. Und später, als die Frauen vorsichtig aus den Fenstern von Grossmutters Häuschen spähen, sehen sie im Unterholz leuchtende Augen. Wer ist Wolf?
Trailer
Mit minimalen Mitteln – er braucht wenig mehr als seine Schauspieler, einen weissen Volvo und den brandenburgischen Wald – stellt Seiler eine Geschichte voller Schönheit und leiser Komik auf die Beine. Irgendwo lauert immer etwas unheimliches, von der ersten Einstellung auf einen Berliner Vorortszug bis zu den letzten Bildern der drei Frauen im Wald. Und doch verlässt einen nie das Gefühl, dass das alles seine Richtigkeit hat. Selbst die schiesswütigen Macho-Idioten, welche sich betrunken im Wald auf Wolfsjagd machen, natürlich erfolglos, wirken wie zwar bedauerliche, aber dennoch naturgegebene Erscheinungen ohne grosse Konsequenz.
Nostalgische Erzählmagie
Seiler spielt nicht zuletzt mit der märchenhaften Unschuld eines früheren Kinostils. Zwar leuchtet der Wald in den schönsten Farben, die Moosböden und die weit auseinanderstehenden Bäume ergeben keinen Schwarzwald, sondern eine einladende, labyrinthische Welt. Aber die Fahrt aus der Stadt in die Wildnis wird zur typischen Kinotransition. Seiler filmt seine vier Protagonisten im Auto mit viel Raum und montiert die Aussenwelt via Greenscreen auf die Autoscheiben. Diese Kombination von realistischen Filmbildern und nostalgisch anmutender Kintopp-Ästhetik erzeugt genau jenen Touch von Erzählmagie, welcher der ganzen Geschichte ihre zwingende Leichtigkeit gibt.
Friedliche Angstlust
«Der Ausflug» leuchtet in satten Farben. Von den Kleidern der Frauen bis zu den ausstatterischen Details in Grossmutters Häuschen ist alles sorgfältig abgestimmt. Man überlässt sich der ruhigen, schweifenden Kamera genau so gern wie der wunderbaren Musik von Beat Solèr. Angstlust war selten so friedlich und fröhlich wie hier, und jede vermutete Bedrohung ist immer auch ein verstecktes Versprechen.
Wo vergleichbare Filme sich zum Fiebertraum steigern, gleitet «Der Ausflug» auf den weit gespannten Schwingen einer unerschütterlichen Zuversicht über jene dünne Stratosphärenschicht, in der wir Männer uns vor dem Anderssein der Frauen fürchten und zugleich unsere ganze Hoffnung darauf setzen.
Dem Kino die Magie zurückgeben
Noch hat Mathieu Seiler keinen Schweizer Verleiher für seinen Film gefunden. Es bleibt zu hoffen, dass sich das noch ändert. Auch wenn Filme wie «Der Ausflug» an einschlägigen Festivals wie dem NIFFF grundsätzlich ein dankbares Publikum finden: Allen anderen täte der Film auch gut, denn er zeigt, wie wenig materiellen Aufwand es braucht, um dem Kino seine Magie zurückzugeben.