Mike Müller, Sie haben Philosophie studiert und sich mit den grossen Themen des Lebens auseinandergesetzt – mit Wahrheit, Moral, Freiheit usw. War auch der Tod dabei? Bereits Platon meinte ja: «Philosophieren heisst sterben lernen.»
Mit dem Tod habe ich mich in den Hörsälen wenig beschäftigt. Ich habe mich insbesondere für die Philosophie der Aufklärung interessiert und für praktische und politische Philosophie. Die Frage nach der Gerechtigkeit stand im Zentrum. Existenzielle Themen wie Angst und Tod – Fragen, die schnell ins Religiöse münden – beschäftigten mich nur am Rand. Ich finde, die Aufgaben, die wir haben, solange wir hier auf der Welt sind, sind aufregend genug. Als Atheist glaube ich sowieso nicht an ein Leben nach dem Tod.
Dennoch haben Sie eine gewisse Verbindung zum Tod und zum Sterben: Ich habe gelesen, dass Sie neben Ihrem Philosophiestudium auch als Totengräber gearbeitet haben.
Das stimmt. Ein gutes Jahr lang. Aber so viele Leute sind in dem Jahr gar nicht gestorben (lächelt).
Was hat Sie an dem Job gereizt?
Schwer zu sagen. Es ist ja nicht so, als hätte ich eine Vorliebe fürs Morbide. Ich denke, es war in erster Linie die Tatsache, dass niemand anderes diesen Job machen wollte. Das hat mich gereizt.
Und wie war das, auf dem Friedhof zu arbeiten und Leichen zu begraben? Was tut man da genau?
Schaufeln! Richtig viel schaufeln. Und die Seitenwände mit Schaltafeln stützen, damit das Loch nicht zusammenkracht. Es war körperlich strenge Arbeit. Das Berührende dabei war, dass manchmal Freunde und Verwandte des Verstorbenen zu mir kamen, weinten und mir sehr persönliche Geschichten erzählten. Da habe ich gesehen, wie brutal der Tod sein kann, dass er Brüche aufzeigt und gewaltige psychische Energien freisetzen kann – anders als bei einer Gemeindeversammlung.
Kann man lernen, mit dem Tod umzugehen?
Niemand lernt, mit dem Tod umzugehen. Das geht nicht. Der Tod steht dem Leben diametral gegenüber. Und darum ist es ein Schock. Jedes Mal von Neuem. Denken Sie an den Kindstod. Da möchte man als Atheist auch keinen Pfarrer hören, der tröstliche Lügen erzählt. Der Tod ist einfach schrecklich.
So schrecklich, dass wir ihn aus dem Alltag verbannen müssen? Wie empfinden Sie den Umgang unserer Gesellschaft mit dem Sterben?
Der Tod unterliegt heute einem ungeheuren ökonomischen Druck. Wir verdrängen ihn und schieben ihn an den Rand der Gesellschaft. Es gibt keine Aufbahrungen mehr. Alles muss möglichst effizient und unauffällig geschehen. Wenn eine Person in einem Hotel stirbt, müssen die Bestatter den Warenlift nehmen und zur Hintertüre raus, um nicht aufzufallen. Sie fühlen sich wie Gangster. Der Tod wird versteckt. Er stört. Der Druck der Ökonomisierung hat etwas abschreckend Totalitäres.
Sind Sie eigentlich ein Pessimist?
Ein Pessimist schon, aber kein Misanthrop. Ich liebe das Vitale und Verspielte im Leben – etwas, das man in der Tierwelt gut beobachten kann. Der Spieltrieb und das Lebensbejahende, da bin ich ganz bei Friedrich Schiller: «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.»
Und Sie selbst spielen gerne und gut, nämlich als Bestatter. Was reizt Sie eigentlich so sehr an dieser Rolle?
Ich spiele die Rolle wahnsinnig gerne, weil sie immer eine gewisse Form hat. Ein Bestatter muss zugleich professionell und einfühlsam mit Menschen umgehen, die einen geliebten Menschen für immer verloren haben. Solche Menschen können implodieren oder auch aggressiv werden. Der Bestatter bewahrt angesichts dieser frei werdenden Energien in seiner Funktion immer eine gewisse Haltung. Die Rolle strahlt Respekt und Achtung vor den Toten aus. Der Bestatter vertritt die Toten.
Haben eigentlich auch Tote eine Würde? Denn schliesslich ist der Leichnam ja nur noch unbelebtes Fleisch …
Ja. Der tote Körper ist die Hülle der verstorbenen Person. Juristisch ist er eine Sache, aber mit Recht auf Unversehrtheit. Die Hinterbliebenen haben immer noch Emotionen gegenüber dem Toten, auch wenn die Vernunft sagt, das ist nur unbelebtes Fleisch. Wir Menschen sind eben kein Intel Prozessor.
Haben Sie eigentlich Angst vor dem Tod?
Nein. Aber wenn man mir sagen würde, dass ich in fünf Minuten sterben werde, dann schon. Ganz am Schluss schreien übrigens alle nach der Mutter. Die Erste ist auch die Letzte.
Gibt es etwas, das Sie bereuen würden?
Vielleicht das, was die meisten heutzutage bereuen: Sie sind der Meinung, zu viel gearbeitet zu haben. Glück hat viel mit Selbstbestimmung zu tun. Aber in einer durchökonomisierten Gesellschaft ist das kaum möglich. Das Individuum geht unter. Es stört.
Wie wichtig ist Ihnen die Selbstbestimmung im Sterben?
Ich bin Mitglied bei EXIT und sehr froh um diese Möglichkeit. Ich finde übrigens, man sollte den Freitod auch aus psychischen Gründen oder aus Altersmüdigkeit wählen können. Und ich möchte anderen nicht die Verantwortung und die Last der Entscheidung überlassen. Das finde ich wichtig. Die Sache mit dem Sterbetourismus ist jedoch heikel. Ich finde, es gehört zu einem würdevollen Tod, dass man dort sterben darf, wo man möchte.