Schauplatz von «L’Abri» («das Obdach») ist eine Zivilschutzanlage am Rand von Lausanne, die in den Wintermonaten Schlafplätze für Obdachlose anbietet. Betrieben wird sie vom Sozialdienst der Stadt, eine Übernachtung kostet fünf Franken. Aber: Das Obdach hat maximal 50 Plätze zu vergeben, meistens jedoch warten draussen bis zu 70 Menschen.
Fernand Melgar macht mit «L’Abri» formal keine Experimente – das ist aber auch nicht nötig. Der Film lebt vom Kontrast, den er zwischen uns und dieser Parallelwelt schafft, die eben auch bei uns, quasi unter unseren Füssen existiert, und die wir normalerweise gar nicht wahrnehmen.
Szenen wiederholen sich wie ein Refrain
Immer und immer wieder, einem Refrain gleich, zeigt der Film eine ähnliche Szene: Abend für Abend stehen Menschen vor dem Tor der Zivilschutzanlage. Und Abend für Abend muss das Personal Leute abweisen, ihnen das Tor vor der Nase zuschlagen.
Dazwischen fokussiert der Film auf einige dieser Menschen dort. Da ist der junge Afrikaner, der 12 Jahre lang in Spanien gearbeitet hatte, bevor er in die Schweiz kam. Seiner Mutter möchte, dass er heimkommt. Ihr erzählt er, dass es ihm gut gehe und dass er Arbeit habe. Zurückkehren kann er nicht, weil er kein Geld hat und weil er sich schämt.
Menschen dies- und jensseits des Tors
Da ist ein lateinamerikanisches Paar, das ebenfalls lange in Spanien war, bevor es von der Krise fortgetrieben wurde. Beide suchen Arbeit, sind nach ihrer Ankunft noch optimistisch. Aber die Obdachlosigkeit ist auch eine Belastung für die Beziehung. Und da ist eine Romafamilie, die mit dem Auto aus Rumänien gekommen ist, in der Schweiz aber nicht arbeiten kann und aufs Betteln angewiesen ist.
Auf der anderen Seite sind die Mitarbeiter, die jeden Abend Türsteher sein müssen, darüber bestimmen müssen, wer in die Wärme darf und wer auf der Strasse schlafen muss. Auch sie müssen immer wieder neu mit sich ringen, streiten mit dem Leiter der Stelle um jeden Menschen mehr, den sie hereinlassen dürfen, und wissen doch, dass die beschränkte Bettenzahl immer eine Selektion verlangt.
Fernand Melgar macht (fast) keine Kommentare
Melgar führt keine Interviews mit den Leuten. Seine Kamera ist einfach dabei. Er filmt die Menschen bei ihren Gesprächen, beim Essen, beim Schlafengehen, beim Aufstehen, beim Ämtergang, filmt die Draussengebliebenen bei ihrer Suche nach einem Platz, wo sie hoffentlich kein Bussgeld für ein «Campieren in der Öffentlichkeit» bezahlen müssen.
Einen Kommentar bieten lediglich die – manchmal etwas sehr didaktisch platzierten – Symbolbilder, die Melgar einbaut: Das Schweizerkreuz auf der Mütze eines vor Verzweiflung weinenden Obdachlosen. Die Weihnachtsbeleuchtung mit der Schrift «Joyeuses fêtes» über dem Abgewiesenen, der nun in der Kälte einen Schlafplatz sucht.
Kritik von beiden politischen Lagern wäre möglich
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Der Film bezieht so konsequent keine Stellung und zeigt diese Parallelwelt so ungeschminkt und ungeschönt, dass er sowohl den politisch Linken wie Rechten Argumente liefern kann. Von Links könnte man argumentieren, es habe doch für mehr als nur für 50 Leute Schlafplätze in den Schweizer Städten. Man könnte über Menschlichkeit und Unmenschlichkeit der städtischen sozialen Dienste nachdenken, über den riesigen Kontrast zwischen Arm und Reich in unserem Land.
Von Rechts liesse sich vermelden, dass dies nun eben das Resultat des Schengenbeitritts und der Personenfreizügigkeit sei: Zuwanderung von armen Arbeitssuchenden, Armut und Obdachlosigkeit unter den Immigranten.
Die Schweiz, ein «Rolex Country»?
Einmal mehr legt Melgar also den Finger auf ein Problem der Immigration – in «L’Abri» sind aber nicht Asylsuchende die Protagonisten. Es sind die Verlierer der Personenfreizügigkeit im Schengenraum, die Ärmsten eines neuen, grenzoffenen Europa, die auf die Schweiz als «Rolex Country» gehofft haben, wie ein Senegalese einmal sagt.
Der Film schaut dahin, wo wir normalerweise lieber nicht hinschauen: Er zeigt, wer die Menschen sind, die wir höchstens mal in Schlafsäcke gewickelt in einer Bahnhofsecke sehen. Er zeigt die bettelnde Romafrau nach ihrem «Feierabend», zeigt, wie ihre Kinder den «Stundenlohn» von zwei Franken neunzig am Spielautomaten wieder verspielen.
«L’Abri» ist ein Film, den man eigentlich genauso schnell wieder vergessen möchte wie die Obdachlosen, die wir täglich am Bahnhof sehen. Im Kino aber laufen wir nicht schnell weg, nachdem wir allenfalls eine kleine Münze in einen Kartonbecher haben fallen lassen. Wir müssen wenigstens diese 100 Minuten hinschauen.