Wo beginnen, mit diesem Koloss, und wo enden? Wer einen biografischen Abriss zu Orson Welles plant, der betritt ein Labyrinth, der verrennt sich in Gegensätze und muss stets darauf achten, das Wahre vom Erfundenen zu trennen. Über Orson Welles wird alles und das Gegenteil behauptet. Und Schuld daran ist natürlich nicht zuletzt Welles selbst, der gern Gerüchte streute, selten mit Übertreibungen geizte und nie davor Halt machte, sich zu widersprechen.
Hollywoods «Wonder Boy»
Nach einem fulminanten Start mit zwei provokanten Shakespeare-Theaterproduktionen und der vieldiskutierten Radiohörspielfassung von «War of the Worlds» war er in Hollywood als junger «Wonder Boy» gesetzt und genoss dort eine für den Ort selten gesehene Narrenfreiheit. Doch das blinde Vetrauen der Geldgeber erwies sich als Bumerang: Nach Welles' Spielfilm-Erstling «Citizen Kane» (1941), der bis heute mit Superlativen eingedeckt wird, endeten seine Projekte bisweilen im Debakel.
Lang ist die Liste von Filmen, die mit oder ohne sein Zutun drastisch umgeschnitten wurden, lang ist die Liste der hinterlassenen Fragmente. Gar unendlich lang ist die Liste der schlechten Filme und Werbespots, in denen Welles gegen Bares auftrat, um sich und seine kompromisslose Kunst über Wasser zu halten. Unbestritten ist (heute) allerdings dies: Wenn Welles inszenierte, sei es unter noch so chaotischen Drehbedingungen und mit verstümmelten Resultaten, dann war zwar ein Dickschädel am Werk, aber halt doch ein Genie; ein Visionär; und vor allem: ein Illusionist.
Die Filme: politische Kommentare zu ihrer Zeit
Doch wie lässt sich dieses Genie fassen? Sattsam bekannt sind die ästhetischen Stilmittel des Meisters: sein expressionistisches Schwarzweiss, sein durchdachter Einsatz der Schärfentiefe, sein Ideenreichtum mit der Kamera, die er möglichst tief, möglichst hoch oder oft auch angewinkelt platzierte, um befremdliche Perspektiven zu erzeugen. Welles betrieb eine radikale Abkehr vom Realismus im Sinne Bertolt Brechts, doch trotz seines Hanges zu grotesker Theatralik flüchtete er nie in reine Fantasiewelten: Fast alle Filme von Welles – selbst die Shakespeare-Adaptationen – sind politische Kommentare zu ihrer Zeit.
Bei der Wahl seiner Stoffe und beim Verfassen seiner Drehbücher hatte Welles stets ein Flair für moralische Grauzonen und für Figuren, die mehr vom Leben abbissen, als sie schlucken konnten. Man könnte einen Teufelskreis herbeireden: Gerade weil Welles' Filme auf obsessive Weise von Desillusion, Korruption, Frustration und vom Scheitern handeln, blieb ihrem Macher der finanzielle Erfolg verwehrt.
Stets zwischen Fakt und Fiktion
In den letzten Jahrzehnten seines Lebens brachte Welles zwar keine Filme mehr zustande, doch er blieb medial präsent: Als imposante bärtige Gestalt mit Zigarre sprach er in Talkshows über sein Leben und seine Zeitgenossen, gab dabei allerdings gern zotigen und diffamierenden Anekdoten den Vorrang und tat mit seinen eigenen Erinnerungen das, was er immer gern getan hatte: Fakt und Fiktion vermischen.
Im vergnüglichen Buch «My Lunches with Orson» von Henry Jaglom lässt sich der Meister zitieren: «Wenn ich erst einmal tot bin, werden die Leute weiss Gott was über mich schreiben. Ich habe so viele Geschichten erzählt, um mich aus üblen Lagen herauszureden, aus Langeweile, oder um die Leute zu unterhalten. Korrigier sie nicht, Henry. Sie sollen ihre Fantasien über mich haben.»
Kommt bald noch Welles' letzter Film?
Genau so wollen wir es halten, und zum Schluss noch einmal ein Gerücht jüngeren Datums verbreiten: «The Other Side of the Wind», ein sagenumwobenes Projekt von Welles aus den 1970er-Jahren, das im Dokumentarfilm «Orson Welles: The One-Man Band» (1995) ausschnittweise zu sehen ist, wurde mittlerweile von ehemaligen Mitstreitern fertig gestellt und kann nach einem langen rechtlichen Hickhack rechtzeitig zu Welles' hundertstem Geburtstag am 6. Mai 2015 der Öffentlichkeit gezeigt werden. Oder etwa doch nicht?