In einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg im Boullonais am Ärmelkanal wird eine tote Kuh gefunden. Und in der Kuh eine tote Frau, in kleinen Teilen und ohne Kopf. Grotesker könnte eine TV-Miniserie kaum anfangen. Wenn dann noch eine Gruppe altkluger Kinder dazukommt und ein Polizist zwischen Maigret und Inspecteur Clouseau, der Ch’ti spricht, dann wissen wir, dass nichts mehr undenkbar sein wird. Und dass das Böse einen grossen Sinn für Humor hat.
Ein Regisseur geht neue Wege
Bruno Dumont, der eigensinnige Regisseur von Cannes-Filmen wie «L’humanité», «Flandres» oder «Hors Satan», aber auch «Camille Claudel,1915» mit Juliette Binoche, ist der letzte, von dem man erwartet hätte, dass ihn eine Fernsehserie reizen könnte. Dumont ist ein Mann der grossen Tableaus, der leeren Landschaften, des Windes und des französischen Nordens. Aber nach Jane Campions «Top of the Lake» wollte auch Arte den Versuch wagen. Der Sender gab Dumont mehr oder weniger eine Carte blanche für einen Vierteiler.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Das hat sich gelohnt. Schon die «Quinzaine des Réalisateurs» in Cannes, bei der der aktuelle Arte-Chefproduzent und zwischenzeitliche Locarno-Direktor Olivier Père lange Chef war, hat im Mai den ganzen Vierteiler am Stück gezeigt. Beim NIFF wurde das Fest wiederholt. Jetzt wird die Serie von Arte gezeigt.
Das Böse ist unter uns
Dumont hat seinen charakteristischen Stil beibehalten. Das Böse ist mitten unter den Menschen und manifestiert sich als integraler Teil des Lebens – vielleicht sogar als Ausdruck einer höheren Gerechtigkeit. Aber zugleich ist «Le P’tit Quinquin» eine «Comédie humaine», eine urkomische Groteske voller regionaler Skurrilitäten.
Die Titelfigur ist eine Ch’ti-Version von Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga, seiner Freundin Eve von ganzem Herzen zugetan, aber ansonsten ein Junge voller Energie und Flausen. Der Kommissar, der Commandant van der Weyden, wird von Bernard Pruvost gespielt, einer absolut hinreissenden Entdeckung. Ein Gesicht voller Ticks, ein Gang wie direkt vom Ministry of Silly Walks, eine unverblümte Ch’ti-Schnauze und ein Kopf voller wirrer Gedanken machen ihn zur perfekten Fusion von Clouseau, Columbo und Maigret.
Ihm zur Seite steht der treue Lieutenenant Rudy Carpentier (Philippe Jore), der sein Temperament zügelt, die Fauxpas ausbügelt und den grössten Teil der aufbrausenden Querköpfigkeit seines Chefs abbekommt.
Eine Sommergeschichte mit Kindern, Leichen und viel Lokalkolorit
Von der Handlung soll möglichst nichts verraten werden. Sie ist – wie meist bei Dumont – mehrfach auslegbar, metaphorisch wie wörtlich, und geprägt von einer Menschlichkeit, die sich um den Teufel oder Satan, wie er bei Dumont heisst, schert, ihm seinen Platz im Leben einräumt. Ganz nebenbei wird der alltägliche Rassismus auf atemberaubende Weise durchgespielt.
«Le P’tit Quinquin» ist eine Sommergeschichte mit Kindern und Leichen, Majoretten und einer Dorfmusik, viel Lokalkolorit und von einer pervers verdrehten Sentimentalität, die unter die Haut geht. Der Titel stammt übrigens von einem Chanson aus dem 19. Jahrhundert, einem Ch’ti-Klassiker, der als Wiegenlied daherkommt, aber durchaus beunruhigende Untertöne aufweist. Und selber schon eine filmische Karriere hinter sich hat: Catherine Deneuve summt das Liedchen in Polanskis Repulsion und es wird in «Bienvenue chez les Ch’tis» von Dany Boon gesungen. In «P'tit Quinquin» ist das Lied auch Teil des Vorspanns: «Dors min p’tit Quinquin, min p’tit pouchin, min gros rojin, Te m’feras du chagrin si te ne dors point ch’qu’à d’main.» Auf Deusch: «Schlaf, mein kleines Kind, mein kleines Küken, mein dicker Proppen, Du machst mir Kummer, wenn du nicht bis morgen schläfst.»