Angespannte Ruhe. Bibi, die Wiener Kommissarin, hält die Hand ihres sterbenden Vaters. Ein Knirschen unterbricht die Stille: Die Panade eines Schnitzels wird mit einem Messer durchtrennt, Bissen für Bissen wird das Fleisch leise verzehrt. Es ist Sonntagabend, Zeit für den «Tatort» und wir befinden uns im Piccolo Giardino, einem Restaurant in Zürichs Langstrassenquartier.
Um 19 Uhr füllt sich das Lokal, Sonntag für Sonntag gucken hier zahlreiche Gäste den «Tatort» – gemeinsam statt einsam zu Hause auf dem Sofa. Es ist die erste Folge nach der Sommerpause und das bei den Anwesenden beliebte Wiener Ermittlerduo spielt sich in Hochform.
Entgegen dem Trend zur Vereinzelung
«Tatort» gucken ist «in», das haben auch Wirte realisiert. Anna, stellvertretende Barchefin im Piccolo Giardino, erklärt die Motivation für den Krimi-Abend: «Sonntags war früher nicht viel los, mit dem «Tatort» beleben wir den Abend. Unser Chef schaut ihn selber gerne und die Leute haben sich daran gewöhnt, den Krimi hier zu geniessen.»
Einsam, spätnachts auf mobilen Geräten dem mit Abstand erfolgreichsten Krimiformat des deutschsprachigen Fernsehen frönen? Fehlanzeige. Entgegen dem Trend zum zeitversetzten Fernsehkonsum scheint der Sendetermin des «Tatorts» am Sonntagabend ein Fixpunkt, eine Art Ritual zu sein. Das bestätigen die Gäste an diesem Abend. «Sonntags gehe ich gerne abends noch raus und treffe ein paar Leute. Hier kann ich zusätzlich lecker essen. Es ist eine soziale Angelegenheit», erklärt eine junge Frau, die mit ein paar Freunden am Tisch sitzt.
Das Publikum ist gemischt an diesem Abend. Das Alter liegt etwa zwischen 20 und 50 Jahren, Einzelgänger gibt es ebenso wie Paare und kleine Grüppchen. Treue Fans und solche, die sich zum ersten Mal einen «Tatort» zu Gemüte führen. «Es ist ein anderes Gefühl hier», meint ein Paar, «hier findet man Wohnzimmeratmosphäre, sieht andere Menschen, wird unterhalten und dazu gibt es noch gutes Essen.»
In Deutschland besonders populär
19.30 Uhr bricht Hektik aus, das Essen will rasch bestellt und verdrückt werden, alle speisen gleichzeitig. Um 20 Uhr dann Stühle rücken, im gemeinsamen Visier: der Bildschirm oben neben der Bar. Dann endlich die unverkennbare Titelmelodie; bis auf den verspäteten Schnitzel-Esser haben alle ihre Mahlzeit beendet. Während der kommenden 90 Minuten richtet sich der Fokus der Aufmerksamkeit auf den Fernseher.
Dieses Bild zeigt sich in zahlreichen, vorwiegend deutschen, Städten zur selben Zeit. In weit über 300 Lokalen wird die Kultserie aktuell gezeigt, wie eine Zusammenstellung der «Tatort»-Kneipen zeigt. Absoluter Spitzenreiter mit 74 Lokalen: Berlin.
Zu den regelmässigen «Tatort»-Gästen im Piccolo Giardino zählen auch Christian und Tobias. Die beiden Freunde schätzen den sozialen Aspekt. Es sei interessant, fremde Menschen und ihre Reaktionen auf einzelne Szenen zu beobachten. Die Folgen diskutieren sie anschliessend gemeinsam, zu Hause lesen sie noch die Kritik im Tagesanzeiger. Montags gehe das Gespräch mit den Arbeitskollegen weiter, erzählt Thomas, wobei durchaus auch Themen aus der Sendung auf die Realität abgeglichen würden.
Ritual im Restaurant
Tatsächlich habe sich der «Tatort» im Verlauf der letzten 40 Jahre als ein gesellschaftsdeckendes Reinigungs- und auch Reflexionsritual etabliert, heisst es im Vorwort zum jüngst erschienen Buch «Der Tatort und die Philosophie» (Tropen, 2014). Dabei gehe es nicht nur um Fragen nach Täter oder Tod, sondern um zentrale Begriffe unseres Zusammenlebens wie Schuld, Verantwortung, Gerechtigkeit, Freiheit, Vergebung.
Wie passen solch schwere Themen zur ansonsten lockeren Atmosphäre des Piccolo Giardino? Gibt es Tabus, während der «Tatort» läuft? Als Tabu würde Anna die ungeschriebenen Regeln nicht bezeichnen, man bemühe sich allerdings, so wenig Störgeräusche als möglich zu produzieren.
«Klar gibt es Stammgäste, die sich aus Witz extra einen Carajillo bestellen, um Lärm zu machen.» Das sei aber die Ausnahme. Meistens beschwere sich niemand, es flögen höchstens ein paar böse Blicke Richtung Bar, wenns dort lauter wird. Davon lässt sich Anna nicht beirren: «Wir sind ein Restaurant und kein Kino.»
Täter raten, bevor die neue Woche beginnt
In der Halbzeit wird die Stimmung unruhiger, das WC ruft, an der Bar werden Tipps mit dem Namen des Täters oder der Täterin abgegeben. Wer zuerst die richtige Filmfigur erraten hat, gewinnt einen der beliebten Giardino-Burger samt Bier.
Langsam geht der Abend dem Ende zu: Noch eine letzte Leiche, dann folgt der Abspann. Nach kurzen Diskussionen löst sich die Runde auf, man geht nach Hause. Die Woche ist nun endgültig zu Ende und die nächste kann beginnen. Der «Tatort» strukturiert die Woche der Fans, im Kollektiv wird dieses Gefühl noch verstärkt.