Nein, er ist kein Schauspieler. Seine spärlichen Dreherfahrungen liegen Jahrzehnte zurück. Géza Röhrig lebt in New York, ist Schriftsteller und arbeitet als Mitglied der «Chewra Kadischa», einer jüdischen Vereinigung, die sich um alle Belange des Todes kümmern: Sie halten Totenwache, waschen den Körper und kümmern sich um die Bestattung.
Géza Röhrig ist aber auch der Hauptdarsteller des vieldiskutierten Holocaust-Films «Son of Saul». Ein Film, der Preise abräumt: den Oscar für den «Besten fremdsprachigen Film» und den «Grossen Preis der Jury» in Cannes – um nur zwei zu nennen. «Son of Saul» will das Unmögliche schaffen: Ein Film über das KZ Auschwitz, der alles zeigt, aber in der Unschärfe, in der Andeutung bleibt.
Genau das begeisterte den Dokumentarfilmer Claude Lanzmann, der immer postuliert hatte, dass es keine Spielfilmbilder für das unvorstellbare Leid der Menschen im Holocaust geben könne. «Son of Saul» findet sie dennoch. Das Stilmittel: eine fast permanente Nahaufnahme seines Hauptdarstellers, gespielt von einem Schauspieler, der keiner ist. Dafür aber jemand, der seine Emotionen, seine Person mit der Rolle verknüpft.
Rebellische Jugendjahre im kommunistischen Ungarn
Géza Röhrig wuchs im kommunistischen Ungarn auf. Mit vier Jahren wurde er ein Waise, wuchs in einem Kinderheim auf. Als er mit zwölf von einer befreundeten jüdischen Familie adoptiert wird, weiss er bereits recht genau was er will: Systeme, Hierarchien lehnt er ab.
Dennoch: Der neue Grossvater wird zur zweiten Vaterfigur. Durch ihn lernt er das Judentum kennen und besucht zum ersten Mal eine Synagoge. Doch der Grossvater ist alles andere als dogmatisch, er liest selbst beim Gebet auch gerne mal den Sportteil der Zeitung. Gott beschreibt er als «einen Schmetterling, den keiner fangen kann.» Der Grossvater stirbt, als Géza Röhrig 16 Jahre alt ist.
Der erste Punk in Ungarn
Der junge Géza beginnt, Musik zu machen. Und zwar Punkmusik – ein absolutes Novum im Ungarn der 80er-Jahre. Nicht die Musik, sondern die Texte waren wichtig, erzählt Röhrig: «Wir wollten gefährlich sein. Wir hassten das System und wollten provozieren.»
Die Auftritte seiner Band werden regelmässig von der Polizei gestürmt. Weil er eine antisowjetische Zeitung herausgibt, fliegt er von der Schule. An ein Studium in Ungarn ist daher nicht zu denken. Géza geht nach Polen. Dort ist die Regierung bereits etwas liberaler, und Röhrig darf ohne Empfehlungsschreiben der kommunistischen Partei studieren. In Polen kommt es auch zu einem einschneidenden Erlebnis. Géza besucht im Dezember 1986 Auschwitz.
Kehrtwende in Auschwitz
«Es war ein kalter Tag. Ich war allein. Fast keine anderen Besucher», beschreibt Röhrig. «Auschwitz war ein öder Ort. Kein Touristenmagnet wie heute. Da war nur der Ort Auschwitz – und ich. Die Zeit seit dem Holocaust, scheinbar inexistent. Der Ort hat mich vereinnahmt. Ich wusste, ich muss wieder kommen.»
Das tat Géza Röhrig, einen ganzen Monat lang. Von morgens bis abends. Nichts sollte ihn ablenkten. Nach einem Monat wusste er, dass Israel seine nächste Station sein musste.
Was Punk und das orthodoxe Judentum gemein haben
Denn er will mehr über das Judentum erfahren, in diese Welt eintauchen, Hebräisch lernen. «Und», sagt Röhrig, «ich wollte beschnitten werden. Ich hatte ein ganzes Programm, das ich durchführen wollte. Alles andere wurde unwichtig.»
Danach kehrt er zurück nach Ungarn, beginnt ein Filmstudium bei István Szabó in Budapest, doch sein Lebensmittelpunkt bleibt Israel. Auf seiner spirituellen Suche entscheidet sich Géza Röhrig für das chassidische Judentum, einer orthodoxen Strömung. Darin sieht er seine Bestimmung.
Der ehemalige Punk wird zum chassidischen Juden – für Géza Röhrig ist das kein Widerspruch. Erstens entwickeln sich Menschen weiter und zweitens empfindet Röhrig den Chassidismus als anti-elitäre Bewegung: «Als jemand, der von unten kommt, habe ich eine Aversion gegen jede Form von elitären Denkschulen.» So gesehen bleibt sich Géza Röhrig treu.
Eine Rolle als Wink des Schicksals
Hat seine Biografie die Arbeit an der Rolle beeinflusst? Géza Röhrig will das nicht überbewerten: «Es gibt Menschen, denen es schlechter erging als mir. Aber das heisst nicht, dass sie die Rolle zwangsläufig besser gespielt hätten. Es geht um die innere Verbindung. Ich habe einen Resonanzraum, in dem Saul seinen Widerhall findet.»
Wenn er nach der Promo-Tour für «Son of Saul» wieder nach Hause nach New York kommt, ist die Schauspielerei kein Thema mehr. Er will sich seinen anderen Projekten widmen: der Arbeit in der jüdischen Gemeinschaft und dem Schreiben. Die Verlockungen Hollywoods interessieren ihn nicht, sagt er. Man glaubt es ihm.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur kompakt,16.3.2016, 7.20 Uhr.